"La Rivista di Engramma (open access)" ISSN 1826-901X

211 | aprile 2024

97888948401

A Presentation of: Sternenfreundschaft. Die Korrespondenz Aby Warburg und Franz Boll, Wallstein, Göttingen 2024

herausgegeben und mit einem Nachwort von Dorothee Gelhard

English abstract

D. Gelhard (hrsg. von), Sternenfreundschaft. Die Korrespondenza Aby Warburg und Franz Boll, Göttingen 2024.

Inhalt

Die Korrespondenz Aby Warburg und Franz Boll, 7

1909

1910

1911

1912

1913

1914

1915

1916

1917

1918

1919

1920

1921

1922

1923

1924

Nachwort, 353

Editorische Notiz, 416

Dank, 417

Register, 419

In 1908, Warburg undertook the careful study of Boll’s main work, Sphaera (1903). He found in it the illustration of an icosahedron, which Boll had interpreted as an amulet. This gave occasion to Warburg’s first letter to Boll in December 1909, in which he politely, but very firmly, disagreed with Boll regarding his interpretation. Certain that the icosahedron is a divination cube, Warburg cited a panoply of references to prove his assumption. He managed to convince Boll, and from this sprang a correspondence that continued until Boll’s death. Boll soon became a close friend of Warburg’s and a discussion partner with whom he shared his ideas, his research, personal doubts and successes. He would often reach out to Boll for information, eagerly awaiting his friend’s reply. For the entire duration of Warburg’s grave illness, caringly and loyally, Boll stood by his side. The term of salutation Warburg initially used, “dear honoured Professor” (“Sehr geehrter”, “Sehr verehrter Herr Professor”, 1910), turned into “dear Professor” (“Lieber Herr Professor”, 1911) just one year later, finally giving way to “dear friend” (“Lieber Freund”, 1912) and “dear friend and highly esteemed colleague stargazer” (“Lieber Freund und hochverehrter Kollege Sterngucker”, 1913). 

A personal letter to his brother, Max, indicates that Warburg conceived of his own thinking as partaking of that of his two friends: with Boll’s death in 1924, the torch was passed on, so to speak, to Ernst Cassirer. The relationship between Warburg and Cassirer lends itself to scrutiny more easily, Cassirer’s works being well-researched. Warburg’s relationship with Boll, however, has received little attention so far. As part of Franz Boll’s estate, more than 80 letters and postcards, written by Warburg to Boll, are kept at the University of Heidelberg; they are now being published for the first time in full, together with Boll’s letters to Warburg stored in the archive at the Warburg Institute in London. 

The Warburg-Boll correspondence is to be seen as a central pillar of Warburg’s thought, allowing for a deep insight into his working methods. Moreover, these letters shed new light on Warburg’s days in Kreuzlingen. In repeated attempts to resume his work, Warburg turned to Boll, asking for his expertise and help with translations. The correspondence also shows – and this was not previously known, either – that Boll took so profound an interest in his friend’s life that he contemplated moving to Heidelberg in 1917. 

While Warburg was staying at the Kreuzlingen sanatorium, Boll collaborated with Gertrud Bing and Fritz Saxl to publish Warburg’s essay on Luther (1920), which was very important to Warburg, who made reference to his work on several occasions in letters to Boll dating back as far as 1916. Likewise, in letters up to 1912, Warburg discusses his Schifanoja essay with Boll, who commented on it again in his 1918 book “Belief in the Stars and Interpretation of the Stars” (Sternglaube und Sterndeutung). 

Enabling the reader to witness first-hand how Warburg arrived at the conclusions drawn in his works, and making explicit Boll’s intellectual contribution to them, the Warburg-Boll correspondence is a valuable resource for the study of Warburg’s thought.

Nachwort

Dorothee Gelhard

aus D. Gelhard (hrsg. von), Sternenfreundschaft. Die Korrespondenz Aby Warburg und Franz Boll, Wallstein, Göttingen 2024, 353-415.

Ex libris Franz Boll von Aby Warburg entworfen nach der Abbildung “Der Astrologe” aus Astrolabium Magnum, herausgegeben von Johannes Engel, Venedig 1494 zur Kennzeichnung der Bücher Bolls, die in die KBW nach dessen Tod eingegliedert wurden [WIA III.94.2.5, Nr. 82].

Als Aby Warburg am 3. Juli 1924 die Nachricht des plötz­lichen Todes seines langjährigen Freundes Franz Boll er­hält, nennt er ihn “meinen Waffengefährten” [1] und setzt damit seine fachliche und persönliche tiefe Verbundenheit mit Boll mit der Freundschaft zwischen Achill und Patro­klos gleich. Im 18. Gesang der Ilias hatte nämlich auch Achill Kunde vom Tod seines nahen Freundes Patroklos erhalten und sofort in den Kampf um Troja eingreifen wollen. Doch Achill hatte weder Rüstung noch Waffen. Trotzdem trat er sofort hervor und war schließlich der­jenige, der den Leichnam Patroklos’ rettete, den Aias und Menelaos unter erbitterten Kämpfen – immer dicht ge­folgt von den Troern unter Führung Hektors – zurück zu den Schiffen zu tragen versuchten. In diesem Moment trat Achill an den Rand des Schlachtfelds und schrie furchtbar auf (Homer, Ilias, 18, 221 übersetzt von Voß 2002, 323). Erst dieser Aufschrei ermöglichte die Rettung des Leichnams des Waffengefährten unter höchster Bedräng­nis (Homer, Ilias, 19, in Voß 2002, 338ff.). Während Menelaos nur an den Kampf und das Volk dachte, ging es Achill vielmehr um seinen Freund. War­burg trauert – wie Achill – um seinen Freund und wie der wollte er das Andenken an den Freund bewahrt wissen: Warburg setzte all seine Energie ein, um Bolls kostbare Büchersammlung für seine Bibliothek zu erwerben und der Nachwelt zu erhalten. Zur Kennzeichnung der Boll’schen Bücher in der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek War­burg (KBW) entwarf er ein Exlibris, das er aus Johannes Engels Astrolabium planum entnahm, das so oft Gegen­stand ihrer Korrespondenz gewesen war. Das Tagebuch der KBW berichtet, wie Bolls Bibliothek allmählich in die KBW eingegliedert wurde:

2. Geschoß Bolliana […]. Damit ist der erste Teil der Bibliothek Boll in die KBW ‘einverseelt’ […] 3. Geschoss: Bibliothek Boll auf­ geteilt, soweit die Bücher in anderen Abteilungen eingeord­net werden müssen, d. h. außer Philosophie Astrologie und Magie ausgesondert. Alles übrige (nach Rücksprache mit Prof. Warburg und Solmitz) bleibt zusammen, sodaß die B.W. gleichsam einen Unterbau in der Gesamtanschauung ‘Antike’ bekommt (GS Tagebuch, 105).

Die zweite Verbundenheit mit Boll, die Warburg im “Waffengefährten” ausdrückt, hängt ebenfalls mit der Ilias zusammen. Diese berichtet, dass der Tod großer Helden mit einer Sonnenfinsternis in Verbindung gebracht wurde, so auch der des Patroklos (Homer, Ilias, 17, 268-269 in Voß 2002, 303). In Bolls Dissertation von 1894 über Claudius Ptolemäus, in der er im zweiten Teil aus­führlich über die Tetrabiblos sprach, erfolgt im Anschluss an Hermann Usener der Nachweis, dass eine Sonnen­finsternis sich immer auf eine hochgestellte Person bezog und in dieser Bedeutung auch bei Ptolemäus Eingang ge­funden hatte. Der Tod des Waffengefährten Achills war demnach von einer Sonnenfinsternis begleitet (Homer, Ilias, 17, 269 und 17, 367-368 in Voß 2002, 303f.), und als ebensolche Verdunklung seines Himmels empfand auch Warburg Bolls plötzlichen Tod.

Mit der Anspielung auf die Sonnenfinsternis betonte Warburg noch einen dritten Hinweis auf Homer, der auf die enge wissenschaftliche Bindung der beiden Freunde anspielte: Denn das griechische Wort “aster” für Stern lei­tet sich von “Ischtar” ab, der babylonischen Fruchtbar­keitsgöttin, die für die Griechen der Planet Venus verkörperte (Freely 2009, 15). Anfangs hielten die Griechen den Himmelskörper noch für zwei verschiedene Sterne und nannten ihn bei Sonnenaufgang “Eosphoros” und “Hesperos” bei Son­nenuntergang. Später jedoch bemerkten sie, dass der Mor­gen­ und Abendstern dasselbe Gestirn [2] war und nannten es “Aphrodite”, die Göttin der Liebe, womit sie den Kult der babylonischen Ischtar fortsetzten (Freely 2009, 15). Venus ist der ein­zige Planet, den Homer erwähnt (Freely 2009, 15): Bei der Beschreibung der Bestattung Patroklos’ spricht die Ilias von “Eosphoros” [3] und während des erbitterten Zweikampfes zwischen Achill und Hektor wird “Hesperos” genannt [4]. So weist Warburg mit “Waffengefährte” schließlich auch auf ihre Dissertationen hin: Der Kunsthistoriker Warburg hatte über Botticellis Venus promoviert und der Altphilologe Boll über Claudius Ptolemäus.

Seit der Dissertation über Sandro Botticellis Frühling und Geburt der Venus (1893) hatte Warburg den Ein­druck, dass sich die Erforschung der Wiedergewinnung der Antike in der Renaissance zu ausschließlich auf die ästhetische Seite konzentriere und somit weder der Antike noch der Renaissance gerecht werde. Der antike Mensch sei nicht nur in seiner Winckelmann’schen “stillen und edlen Größe” zu erfassen, glaubte Warburg, sondern das Eigentliche, das, was den antiken Menschen beschäftigt, umgetrieben und besorgt hatte, zeige sich gerade in den “dunklen Regionen spätantiken Aberglaubens” (Warburg, Per monstra ad sphaeram, in Stimilli, Wedepohl 2007, 68). War­burg hatte nicht nur erkannt, sondern es zu seinem Lebensthema gemacht, dass man:

Die Aufklärung, die die Wiederentdeckung des klassischen Altertums Euro­pas brachte, nicht als eine Ateliererscheinung auf[fassen dürfe], sondern als einen Auseinandersetzungsprozess des neuen Lebens mit der Ueberlieferung des alten, so […] [gebe] gerade die Antike, wie sie in der Astrologie dämo­nisch verzerrt ihren Kult forderte und erhielt, dem kulturwissenschaftlichen Betrachter erst die Gelegenheit, die Wiederherstellung des klassischen Altertums als das Er­gebnis eines (ästhetisch vielleicht nicht so reizvoll wirken­den, aber menschlich um so tiefer packenden) Befreiungs­versuchs der modernen Persönlichkeit aus dem Bann magisch­-hellenistischer Praktik klar zu begreifen (Warburg, Per monstra ad sphaeram, in Stimilli, Wedepohl 2007, 68).

Warburgs Rekonstruktion des Übergangs vom Glauben an einen von Schicksalsmächten bestimmten Kosmos zur Wiederbelebung antiker Sphärenmodelle sowie der Mög­lichkeit, diese mit Instrumenten zu überprüfen und damit zu verwissenschaftlichen, hatten ihn von den Fresken Ferraras (im Schifanoja­-Vortrag 1912, publiziert 1920) schließlich zur mathematischen Himmelsvermessung bei Kepler geführt.

1908 hatte Warburg Bolls Hauptwerk, das 1903 er­schienene Buch Sphaera, genau studiert und sich im De­zember 1909 zum ersten Mal brieflich an ihn gewandt, weil er über eine Abbildung und deren Deutung gestol­pert war. Boll hatte einen Ikosaeder als Amulett interpre­tiert (Boll 1903, 471) [5], und Warburg widersprach ihm darin zwar höflich, aber doch sehr entschieden. Er war sich vielmehr sicher, dass es sich um einen Wahrsagewürfel handeln müsse, und fügte seiner Deutung noch viele Literaturhinweise hinzu. Boll ließ sich überzeugen, und nun begann ein Briefwech­sel, der bis zu Bolls Tod nicht mehr abriss. Boll wurde für Warburg schon bald ein enger Freund und Gesprächs­partner, mit dem er all seine Ideen, Forschungen, Zweifel und Erfolge teilte. Oft bat er ihn ungeduldig um Aus­kunft. In der Zeit der schweren Krankheit stand Boll ihm fürsorglich und treu zur Seite. So wurde aus dem an­fänglichen “sehr geehrter” oder “verehrter Herr Pro­fessor” (1910) schon ein Jahr später “Lieber Herr Profes­sor” (1911) und schließlich “Lieber Freund” (1912) und “Lieber Freund und hochverehrter Kollege Sterngucker” (1913).

Ein Brief an seinen Bruder Max belegt, dass Warburg selbst sein Denken zwischen zwei Freunden aufgespannt sah: Boll gab gewissermaßen den Freundschaftsstab an den Philosophen Ernst Cassirer 1924 weiter (Aby Warburg an Max Warburg am 13. Juni 1928, in GS Briefe, 713). Die Bezie­hungen zwischen Cassirer und Warburg sind einfacher nachzuvollziehen, weil das Werk Cassirers inzwischen gut erschlossen ist. Die Beziehung zu Franz Boll hat bis­her wenig Beachtung gefunden. Die über 80 Briefe und Postkarten, die Warburg an Boll geschrieben hat, die sich im Nachlass Franz Bolls in der Universität Heidelberg befinden, wurden noch nie vollständig publiziert. Eben­sowenig die Briefe und vielen Postkarten Bolls, die das Archiv des Warburg Institute in London aufbewahrt. Die Korrespondenz bildet aber einen entscheidenden Pfeiler in Warburgs Denken und gibt zugleich einen tiefen Ein­blick in seine Arbeitsweise. Im Dialog mit Boll zeigt sich außerdem, wie aus dem Kunsthistoriker Warburg der Kulturwissenschaftler wurde, der einen neuen Blick auf die Kulturgeschichte warf:

Waren die Repräsentanten der ersten klassischen Tradition die idealen Götter des Olymps nebst ihrem gesamten Kultanhang, so bildeten die kosmischen Dämonen den Hauptbestandteil der seit dem Ausgang des Altertums immer fortwirkenden Volksreligion, wie sie sich vornehmlich in den astrologischen Weisheitsbüchern kodifizierte. Dem Wirken und der fata­listischen Bedeutung gerade dieses, z. T. längst vergessenen Teiles der mittelalterlichen Buchwelt nachzugehen er­kannte Warburg als seine besondere Aufgabe, umsomehr als Buch und Bild dieser Zeiten ungeahnte Zusammen­hänge aufwiesen (Hoecker 1921, 2).

Seit der Dissertation hatte Warburg erkannt, dass sich die Künstler der Frührenaissance mit den bildlichen Vorstel­lungen der Vergangenheit auseinandergesetzt haben. Die Beschreibungen der Planetengötter oder Sphärenlenker in den antiken Texten wurden visualisiert, um die Gefühls­welt der Renaissance auszudrücken. Text und Bild waren also, so erkannte Warburg, im Nachleben der Antike glei­chermaßen von Bedeutung, weshalb er verschiedentlich darauf hinwies, dass er eine: “Korrektur an Lessing anzubringen” [6] habe, die er schließlich mit dem Mnemosyne-Atlas vorzulegen gedachte. Im Verlauf seiner Be­schäftigung mit den Kunstwerken bemerkte Warburg nicht nur, dass das Nebeneinander der orientalisch-­paganen bildlichen Vorstellungen insbesondere dann produktiv war, wenn sich astrologischer Aberglaube mit rationaler Astronomie vermischte, sondern, dass die astrologischen Spuren, die er fand, vielmehr zeigen, dass die “künstle­risch-­ästhetische Auffassung der Antike nicht über die praktisch religiöse […] siegte” (Hoecker 1921, 2). Diese Entdeckung führte ihn zu den Arbeiten Franz Bolls, mit dem er immer wieder seine Forschungsfragen diskutierte.

Aus dem anfänglichen Arbeitsverhältnis wurde im Laufe der Zeit eine tiefe Freundschaft. Bisher war nicht bekannt, dass Boll so lebhaften Anteil am Schicksal seines Freundes nahm, dass er ihm 1917 vorschlug, zu ihm nach Heidel­berg zu ziehen und, dass umgekehrt die 1919 neugegrün­dete Universität Hamburg Boll zu berufen beabsichtigte, was der jedoch ablehnte.

Die Briefe sind des Weiteren ein wertvolles Dokument über Warburgs Aufenthalt im Sanatorium in Kreuzlingen. Immer wieder versuchte Warburg zur Arbeit zurückzu­kehren und wandte sich mit Fragen und Bitten um Erklä­rung oder Übersetzung an Boll. Während Warburgs Auf­enthalt in Kreuzlingen kümmerte sich Boll zusammen mit Gertrud Bing und Fritz Saxl um die Publikation des Lu­ther-­Aufsatzes (Heidnisch-antike Weissagung in Wort und Bild zu Luthers Zeiten (1920), in GS, 487-558). Ein Thema, das Warburg seit 1916 im­mer wieder in den Briefen erwähnt hatte und das ihm sehr wichtig war. Ähnlich wie bei dem Schifanoja­-Aufsatz, über dessen Entstehung in den Briefen bis 1912 die Rede ist und auf dessen Erkenntnisse Boll wiederum in Sternglaube und Sterndeutung eingehen wird [7] sehen wir vor unseren Augen, wie Warburgs Texte gewachsen sind, auf welchen Wegen er zu seinen Beobachtungen kam und wie sehr Boll ihn bei der Ausarbeitung seiner neuen kultur­wissenschaftlichen Methode mit seinem Wissen – aber auch seinen Mitarbeitern – aktiv unterstützt hat [8].

Franz Boll

Der Heidelberger Altphilologe Franz Boll ist heute fast in Vergessenheit geraten. Das ist angesichts seiner damaligen Bekanntheit und internationalen wissenschaftlichen An­erkennung erstaunlich: Zweimal erhielt er einen Ruf an die Universitäten Wien und Berlin, die Universität Padua verlieh ihm 1922 die Ehrenpromotion, im selben Jahr wurde er in Bologna Akademiemitglied, er war Mitglied der Akademie der Wissenschaften in Heidelberg und wur­de ins Gründungskomitee des Vorläufers der heutigen DFG gewählt, der Notgemeinschaft der deutschen Wis­senschaft, die 1920 gegründet worden war.

Geboren wurde Franz Johann Evangelista Boll am 1. Juli 1867 in Rothenburg ob der Tauber. Er studierte Philoso­phie und Klassische Philologie in Berlin bei Eduard Zeller und in München u. a. bei Ludwig Traube. 1891 promovierte er in München bei Wilhelm von Christ über Claudius Ptolemäus [9] und war danach als Beamter an der Münchner Hof­- und Staatsbibliothek beschäftigt. 1908 übernahm er als Nachfolger Albrecht Dieterichs bis zu seinem Tod eine Professur für Altphilologie in Heidelberg (Reitzenstein 1924-1925, 47).

Nach Beendigung seiner astrologischen Studien hatte er eigentlich immer ein Buch über Platon schreiben wollen (Boll an Wilamowitz-Moellendorff, 25. Juli 1914, in Heilen 2003, 122. Siehe dazu auch: Reitzenstein 1924-1925, 51), doch ist es dazu nie gekommen, weil die astrologischen Traktate und die Spuren der Sternbildertradition im Hel­lenismus zu zahlreich und vielfältig waren. Boll:

Ging den bisher ganz unbekannten Wegen nach, auf denen altorien­talische wissenschaftliche und religiöse Vorstellungen von Himmelserscheinungen und Sternbildern von Osten aus Mesopotamien und aus Ägypten in die griechische und römische Welt eingedrungen waren; er verfolgte aber wei­ter auch die Wege, auf denen das antike Erbe danach bis nach Persien und Indien wanderte und dann wieder über den islamischen Osten und Nordafrika, ferner über By­zanz in das abendländische Mittelalter aufgenommen wurde und durch Vermittlung spanischer, sizilianischer und italienischer hoher Schulen nach Mitteleuropa gelangte (in Gärtner 2000, 87).

Sein Hauptwerk Sphaera (1903) machte ihn weit über die Fachgrenzen international bekannt [10]:

Bolls ständig wachsende und immer fundiertere Kenntnisse der antiken Astronomie und Astrologie und ihres Nachlebens führten dazu, dass er Erklärungen für bisher Unverstandenes fand, in literarischen Werken und in der bildenden Kunst, nicht nur bei antiken Autoren wie Horaz, Properz, Vergil, son­dern z. B. auch bei Geoffrey Chaucer, in den Canterbury Tales, oder im Figurenschmuck am Ottheinrichsbau auf dem Heidelberger Schloß (Gärtner 2000, 87).

Die Freundschaft zwischen Warburg und Boll ent­wickelte sich somit nicht zufällig. Kamen sie zwar aus verschiedenen Fächern, war der Impuls und ihre ‘philologische’ Methode, die sie zu ihren Forschungen unermüdlich antrieben, jedoch gleich: Im Bestreben, die europäische Kultur zu verstehen, stießen sie immer wieder auf Phäno­mene, die von der Wissenschaft als randständig etikettiert worden waren, als vernachlässigbar oder als unverständ­lich rubriziert wurden. Sie entdeckten aber, dass in diesen Randphänomenen – in dem Aufeinandertreffen von Aberglauben und Wissenschaften – der Schlüssel für die Entwicklung der Kultur liegt. Boll verfolgte die Rolle der astrologischen Phänomene in der antiken Religion und Politik genauso wie in der Literatur und Wissenschaft. Und so bestärkte der Doyen der Altphilologie Ulrich von Wilamowitz­-Moellendorff den jüngeren Kollegen Boll, dem er für die Übersendung seiner Dissertation mit den Worten dankte:

Ich habe oft gelegenheit gehabt und ge­nommen zu sagen, “es muß sich einer in die astrologie stürzen, denn da ist etwas zu holen”: Sie scheinen der ge­suchte und berufene zu sein, und Sie haben schon gefunden. [...] Die astrologie wird nun wol in aufnahme kommen. […] Ihre Tetrabiblos wird jedenfalls das Hauptstück sein (Wilamowitz-Moellendorff an Franz Boll vom 2. Juli 1894, in Heilen 2003, 96).

Die Nähe zu Warburgs später entwickelter Kultur­geschichte zeigte sich schon in Bolls Dissertation (Boll [1891] 1894). Boll hatte nämlich zeigen können, dass die Schrift über Stern­deutung Tetrabiblos – entgegen bisheriger Auffassung – doch von Ptolemäus stammte. Bis dahin hatte man es ab­gelehnt, einen Naturforscher wie Ptolemäus mit dem Aberglauben der Sterndeutung in Verbindung zu bringen und war von einer Fälschung ausgegangen (Reitzenstein 1924-1925, 45). Doch Boll konnte nicht nur beweisen, dass Ptolemäus der Autor war, sondern auch dessen hellenistische Quellen aufzei­gen, darunter die Schriften Poseidonios’, der Platon nahe­stand und Cicero und Pompeius zu seinen Schülern zähl­te. Nicht nur Warburg, sondern auch Boll interessierte sich für die Simultaneität von Wissenschaft und Aberglau­ben in der Kulturentwicklung. Bolls Verständnis von Philologie war umfassend – was Wilamowitz­-Moellendorff, mit dem Boll häufig korrespondierte, ausdrücklich gou­tierte (Heilen 2003). Diesen methodischen Blick auf das Ganze des Fa­ches teilte Boll mit Warburg. Boll und Warburg richteten ihr Augenmerk auf mystische Erscheinungen, auf magi­sche Überlieferungen und abergläubische Relikte, um nachzuvollziehen, inwiefern diese die Vorstellungen – d. h. das Denken und die Transformation in Bilder – im Laufe der Geschichte geprägt hatten. Beide interessierten sich lebhaft für die orientalische Antike und insbesondere für ihre Durchdringung mit dem Hellenismus.

Seit Johann Gustav Droysen im 19. Jahrhundert das Wort “Hellenismus” gewählt hatte, um eine neue Form der griechischen Kultur auf fremdem Boden zu bezeich­nen [11], hatte sich der Begriff für die drei Jahrhunderte nach Alexander bis zu der Zeit Pompeius’ und Caesars durch­gesetzt. Er umfasst den Zeitraum, in dem Rom die griechi­schen Reiche des Ostens unterworfen und die Welt unter Augustus erneuert hatte (Boll hat in dem Aufsatz von 1922, Hellenismus und Orient, diese gegenseitige Durchdringung untersucht. Siehe Boll [1922] 1950). Über den Einfluss der griechi­schen Sprache, Philosophie, Wissenschaft, Technik usw. auf den Orient hatten die Altphilologen bisher durchaus mit einigem Stolz geforscht, und auch die Kunstwissen­schaftler erkannten die hellenistische Plastik in den orien­talischen Göttergestalten wieder. Boll führt als Beispiel Serapis an:

Den die Religionspolitik der Ptolemäer mit Beihilfe griechischer und ägyptischer Priester ihren Un­tertanen als den mit beiden Nationen gemeinsamen Gott nahebringen wollte; auch sein Name sollte zu den Ägyp­tern sprechen, aber die Gestalt, die ihm der attische Bildhauer Bryaxis gab, war so gut wie rein griechisch, eine wundersame Neubildung, in der die Majestät des Göttervaters Zeus, das menschenfreundliche Erbarmen des milden Arztes Asklepios und die düstere Schwermut des Toten­gottes vereint nachklingen (Boll [1922] 1950, 293).

Die Formen hellenistischer Kunst breiteten sich über ganz Asien aus und drangen in alle Bereiche der darstellenden Kunst.

Doch es gab auch die umgekehrte Richtung der Ein­flussnahme, die jedoch gern übersehen wurde. In der Kunstgeschichte war es u. a. Josef Strzygowski, der 1901 mit dem Buch Rom oder Orient? (im Anhang zur Dissertation erwähnt Warburg Strzygowski mehrfach. Auch Orient oder Rom? war ihm bekannt, wie dort nachzulesen ist. Siehe GS, 311) an die Öffentlichkeit trat und 1902 in dem Aufsatz Hellas in des Orients Umarmung zur Beilage der Allgemeinen Zeitung seine Thesen noch zugespitzter formulierte, indem er den Vertretern der formalen Wiener Schule der Kunstgeschichte, Alois Riegl und Franz Wickhoff, bescheinigte, ihre Arbeiten “litten an einem Fehler in den Fundamenten: Sie kennen den Orient nicht” (Strzygowski 1902, 313). Warburg waren Strzygowskis Arbei­ten nicht nur bekannt, er hat auch mit ihm korrespondiert, und er gehörte zu dem Gelehrten-­Kreis, der regelmäßig Warburgs Sonderdrucke zugesandt bekam (Diers 1991, 139). 1922 hielt Strzygowski einen Vortrag in der Bibliothek Warburg, den Saxl jedoch so schlecht fand, wie er Warburg nach Kreuzlingen berichtete, dass er ihn nicht publizier­te [12]. Warburg teilte mit Strzygowski die Überzeugung, dass der orientalischen Antike eine entscheidende Bedeu­tung für die Entschlüsselung der Kunstwerke der Früh­renaissance zukomme, wie eine Bemerkung aus seinem Briefkopierbuch belegt: “Strzygowski – daraus f[ür] Arbeit Kapital schlagen” (Diers 1991, 140).

Winckelmanns Vorstellung der stillen Erhabenheit der Antike, die immer noch populär war, wurde sowohl von Boll als auch von Warburg als zu einseitig zurückgewie­sen. Beide interessierten sich vielmehr für den Synkretis­mus der Antike und der ihr nachfolgenden Kultur. Beson­ders die christliche Kunst, die von der Verbreitung der griechischen Amtssprache sprachlich sehr profitiert hatte, wies eine starke Durchmischung hellenistischer und orien­talischer Bildvorstellungen auf, so dass Boll konstatieren konnte:

Kein Weihnachtsfest und kein Ostern, kein Sonntag und kein Marienfest wird in der weiten Welt ge­feiert, in dem nicht ein Nachklang der stimmungskräftigsten Elemente dieses orientalischen Hellenismus mitschwänge. Aber von der herben und heroischen Strenge des alten Griechentums darf man hier nichts mehr suchen (Boll [1922] 1950, 300).

Boll und Warburg stimmten darin überein, dass sich die Auffassung, die divinatorische Astrologie sei in der Re­naissance endgültig von der mathematischen – die man inzwischen Astronomie nannte – abgelöst worden, nicht aufrechterhalten lasse. Vielmehr hatte schon Boll in seiner Dissertation über Ptolemäus nachweisen können, dass Tetrabiblios die Wissenschaft von den Sternen in zwei Disziplinen eingeteilt hatte: Die erste untersuchte die Konfigurationen und Erscheinungen der Bewegungen der Himmelskörper und ihre Wechselbeziehungen unterein­ander und zur Erde, und der zweite Teil zog Schlüsse von der physischen Qualität dieser Konfigurationen auf die Ereignisse der Umwelt (Garin [1976] 1997, 20). An der Autorschaft Ptolomäus’ hinsichtlich der ersten Richtung bestand in der Forschung kein Zweifel. Doch die zweite, in der aus den Konstella­tionen Wahrscheinlichkeiten irgendwelcher Voraussagen abgeleitet wurden, traute man einem ernsthaften Wissen­schaftler wie Ptolomäus nicht zu. Und doch hatte die Astrologie von Anfang an dieses Doppelgesicht aus Aber­glauben und Rationalität, das, wie Eugenio Garin zu Recht bemerkte, ihren Ursprung in dem Wechselverhältnis von Theorie und Praxis hat:

Als Theorie sucht sie die ewigen Gesetze des Weltalls in nüchterner und klarer Linien­führung vor uns hinzustellen, während ihre Praxis im Zeichen der Dämonenfurcht der “primitivsten Form reli­ giöser Verursachung” steht (Garin [1976] 1997, 21).

Während Boll diesem Phänomen 1910 in Vom Weltbild der griechischen Astrologen bei den Pythagoreern, Platon und Aristoteles genauer nachging, konzentrierte sich Warburg auf ein konkretes Kunstwerk in Ferrara und ver­suchte die Wege der orientalischen Einflussnahme bei den dargestellten Monatsbildern März und April im Palazzo Schifanoja zurückzuverfolgen.

Im Laufe der Zeit erarbeiteten sich beide Freunde – auch mit Hilfe ihrer Mitarbeiter und Kollegen – einen be­stimmten Handschriften­Korpus. Besonders Warburg bestürmte seinen Freund Boll oft ungeduldig, ihm Text­stellen zu übersetzen, Handschriften zu fotografieren und Bilder zu schicken, um nachweisen zu können, welche Motive, Gesten, Körperhaltungen, Beiwerke, Farben oder Attribute einer Figur auf indische, persische, arabische, spanische, lateinische, babylonische oder griechische Quellen zurückgingen.

Aby Warburg

Als Warburg die Nachricht vom Tod seines Freundes überbracht wurde, befand er sich noch im Sanatorium in Kreuzlingen, in dem er in den letzten Jahren Heilung bei Ludwig Binswanger suchte, nachdem ihn die Ereignisse des Ersten Weltkriegs aus dem seelischen Gleichgewicht gebracht hatten. Es war der Augenblick, in dem Warburg wieder begonnen hatte, neue Zuversicht zu fassen, und voller Hoffnung war, nach Hamburg zurückkehren und seine Arbeit, die Entwicklung einer neuer Kulturwissen­schaft, fortsetzen zu können. Kurz zuvor – am 10. April 1924 – hatte der Philosoph Ernst Cassirer, der auf den Lehrstuhl für Philosophie in Hamburg berufen worden war, Warburg für zwei Tage in Kreuzlingen besucht, und sie hatten intensiv über Warburgs bisherige Forschungen gesprochen und u. a. ausführlich über Kepler diskutiert (Ernst Cassirer an Aby Warburg, 12. April 1924, in Krois 2009, 65ff.). Warburg hoffte, zukünftig auf eine enge Zusammenarbeit Boll­-Cassirer-­Warburg setzen zu können (Aby Warburg an Max Warburg am 13. Juni 1928, in GS Briefe, 713). Boll und Cas­sirer waren zwar beide Kollegen aus anderen Fächern, doch legte Warburg ihrer beider Denken in einzigartiger Weise seiner kulturwissenschaftlichen Methode zugrun­de: Er strebte nach einem ‘umfassenden’ Verständnis der Antike in der Rekonstruktion, die sie bildnerisch in der Renaissance erfahren hat. 

Abraham Moritz Warburg, genannt Aby, der 1866 in Hamburg als ältester Sohn einer jüdischen Bankiersfami­lie geboren worden war, hatte von 1886-­1891 Kunstge­schichte, Archäologie und Geschichte in Bonn, München und Straßburg studiert und 1892­-93 noch ein wenig Psycho­logie in Berlin gehört. Im Wintersemester 1888/89 hatte er sich einer Studentengruppe um den Breslauer Professor August Schmarsow angeschlossen, der ein Semester lang in Florenz die Studenten vor Ort in das Studium der Kunstgeschichte einführte. Warburg traf dort nicht nur seine spätere Frau, die Künstlerin Mary Hertz, die aus einer Hamburger Reedereifamilie stammte, sondern vor allem fand er in Florenz sein Dissertationsthema: Sandro Botticellis Geburt der Venus und Frühling. Gut zwei Jahre später stellte er am 8. Dezember 1891 bei dem Dekan Theobald Ziegler den Antrag auf Zulassung zur Promo­tion in dem Hauptfach Kunstgeschichte (bei Hubert Jani­tschek) und den Nebenfächern Archäologie (bei Adolf Michaelis) und Philosophie (beim Dekan Ziegler), die er am 5. März 1892 mit sehr gut bestand (gedruckt und erschienen ist die Dissertation bei Leopold Voss, Hamburg und Leipzig 1892 (datiert 1893). Wiederab­ gedruckt in GS, 307ff.).

Während es für den Altphilologen Boll nicht abwegig war, sich mit der Thematik Orient­-Hellenismus zu be­schäftigen, musste sich der Kunsthistoriker Warburg erst langsam an das Thema in der Kunst herantasten. In seiner Dissertation von 1893 über Botticellis Geburt der Ve­nus und Frühling [13] war vom orientalischen Hellenis­mus noch keine Rede. Warburgs Untersuchungsmethode wurde aber schon deutlich: die historische Quellenfor­schung, womit er der u. a. von Johann Gustav Droysen 1833 eingeführten Quellenkritik folgte. Schon in den frü­hen Arbeiten – man könnte sie seine ‘florentinischen’ nennen – interessierten Warburg die psychologischen Voraussetzungen “[der] künstlerischen Auswahl­ und Umformungsprozesse” (Gertrud Bing, Vorwort, in GS, XI) antiker Überlieferungen. Das Spannungsverhältnis zwischen Christentum, aufsteigen­den Naturwissenschaften und einer antiken Text-­ und Bildtradition, dem der Mensch der Frührenaissance aus­gesetzt war, beschäftigte ihn. In den Texten, die sich mit der “Florentiner bürgerlichen Kultur” [14] befassten, ist der Einfluss des Baseler Kunsthistorikers Jacob Burckhardt erkennbar, der in Die Kultur der Renaissance in Italien (1860) ein Standardwerk vorgelegt hatte, das Lebensberei­che wie Hauswesen, Religion, Kriegswesen, Feste und auch das Staatswesen untersucht. Um ein Kunstwerk zu entschlüsseln, wandte sich auch Warburg den Florentiner Bürgerfamilien zu, die die Kunst und Kultur gefördert und geprägt hatten: Lorenzo de’ Medici, Francesco Sas­setti und Matteo de’ Strozzi. In den Archiven und Biblio­theken Florenz’ erforschte er – wie sein Vorbild Burck­hardt – das Festwesen, Rechnungs­, Auftrags­ und Haushaltsbücher, die Alltagsgegenstände, aber auch die zeitgenössische Literatur, um zu ergründen, wo und wie sich in dieser Gemengelage von religiösen und antiken Einflüssen das Florentiner Großbürgertum behauptet hatte. So konnte er in der Dissertation der bisherigen Deutung der beiden Botticelli­-Gemälde eine neue Kom­ponente hinzufügen: Es gelang ihm, nachzuweisen, dass die dargestellte Venus bzw. Frühlingsgöttin nicht der ide­alen Phantasie Botticellis entsprungen war, sondern das Porträt einer prominenten Florentinerin darstellte, die da­mals als die schönste Frau der Stadt galt: Simonetta Vespucci, deren früher Tod am 26. April 1476 – mit nur 23 Jahren – gerade im Kreise der Medici große Trauer aus­gelöst hatte (Walter 2003, 138).

Die Frage, weshalb Renaissance-­Künstler wie Sandro Botticelli, Filippo Lippi oder Domenico Ghirlandaio auf antike Text­ und Bildmotive zurückgriffen, wie und wa­rum sie diese mit christlicher Symbolik verbanden, führte Warburg dazu, den Spuren der antiken Text­ und Bild­quellen immer weiter und tiefer nachzugehen. Um die seelische Gestimmtheit des Menschen der Frührenaissance zu verstehen, bemerkte er, dass die Begegnung des Helle­nismus mit dem Orient von zentraler Bedeutung sei. So fand sich beispielsweise im Tempio Malatestiano in Rimi­ni – die Fassade hatte Leon Battista Alberti neugestaltet, die Gestaltung des Innenraums aber Agostino di Duccio überlassen – eine Seitenkapelle der “Sieben Planeten” (Capelle dei pianeti), die mit den entsprechenden Tierkreiszeichen ergänzt wurde. Der Tempio Malatestiano ist die erste Rekonstruktion eines antiken Sakralbaus, der die Sarkophage des Condottiere Sigismondo Malatesta und seiner späteren dritten Frau Isotta degli Atti beherbergen sollte [15]. Warburg interessierte von Anfang an dieses Nebeneinander der heidnischen und christlichen Symbolik.

1898 hatte der belgische Orientalist Franz Cumont zu­sammen mit Franz Boll den ersten Band Catalogus codicum astrologorum Graecorum publiziert, der bis heute eine wesentliche Grundlage zur Erforschung des astrolo­gischen Wissens der Antike darstellt. Cumont machte in seiner Einleitung deutlich, dass “sich in der astrologischen Literatur religiöse und ‘wissenschaftliche’ Themen, My­thos und Logos, Spiegelbilder von realen Ereignissen und Phantasiegebilde zu einem schwer durchschaubaren Komplex verbanden” (Garin [1976] 1997, 8). Cumont verwies auf den religi­ösen Charakter der Astrologie, der immer wieder die wis­senschaftliche Beschäftigung mit der Sternenkunde ver­drängt habe. Eine scharfe Trennlinie zwischen der sogenannten divinatorischen Astrologie und der mathematischen Astrologie sei hinsichtlich der antiken Astrologie überhaupt nicht möglich. Immer wieder aber müsse man feststellen, dass neben den wissenschaftlichen Berechnungen mystische Offenbarungen tradiert worden seien, die sich hartnäckig gehalten hätten (Garin [1976] 1997, 23):

Ein ganzes Kapitel ägyptischen Lebens fand Cumont in der astralen Bildwelt versammelt, und gleichzeitig eine Weltauffas­sung, die auf genauen Entsprechungen von Himmel und Erde, von Makrokosmos und Mikrokosmos basierte (Garin [1976] 1997, 12).

Dieses Doppelgesicht der Astrologie fand Warburg in den bildlichen Darstellungen der Frührenaissance wieder. So kam er fast wie von selbst ab 1908 (es ist das Jahr, in dem er Bolls Sphaera gelesen hat) mit Die antike Götterwelt und die Frührenaissance im Süden und Norden zu seinem großen Forschungsthema, das ihn bis zu seinem Tod 1929 nicht mehr loslassen sollte: die Beschäftigung mit der Astrologie. Anders als Ernst Cassirer sah War­burg von Anfang an eine Kontinuität zwischen Antike, Mittelalter und Renaissance wirken, die die Vielschichtig­keit der Bildsprache ausmachte. Cassirer hingegen vertrat die Auffassung, dass die Renaissance mit dem Denken und den Vorstellungen des Mittelalters gebrochen habe. So wird auf dem Gebiet der Religion für Cassirer Luther zum “Befreier” des religiösen Menschen von der Autori­tät der katholischen Kirche (Cassirer [1916] 1991, 1ff.), während auf dem Gebiet der Naturwissenschaften mit Keplers mathematischer Be­rechnung der Planetenbahnen die Geschichte der moder­nen Naturwissenschaften begonnen hatte. Hinsichtlich Keplers stimmte Cassirer mit Warburg wieder überein. Doch Keplers astrologische Seite – er war noch ein An­hänger der sogenannten Theorie der Großen Konjunktion der Planeten Jupiter und Saturn, wie sie in der damals weitverbreiteten arabischen Handschrift des Abu Ma‘šar vertreten wurde – spielte für Cassirers Kulturphilosophie keine Rolle (Cassirer [1925] 1994, 168f.). Vielmehr hob Cassirer in Die Philosophie der symbolischen Formen die Polemik zwischen Patrizi und Kepler hervor: Patrizi hatte gegenüber Kepler betont, dass es überflüssig sei, mit der mathematischen Astrologie den Gang der Planeten bestimmen zu wollen, weil die Pla­neten nichts anderes als dämonische Wesen seien (Cassirer [1925] 1994, 168). So ist, wie Eugenio Garin bemerkte, die Polemik zwischen Pa­trizi und Kepler die:

Fortsetzung eines alten Streits, den Aby Warburg einmal treffend charakterisiert hat: die Astrologie, so meinte der Kunsthistoriker, sei ein exem­plarischer Treffpunkt zwischen dem rational­systemati­schen Anspruch griechischer Wissenschaft und dem my­thisch-­abergläubigen Erbe des Orients, ein Ort also, wo Logik und Magie, Mathematik und Mythologie, Athen und Alexandria zusammenstoßen (Garin [1976] 1997, 14).

Im Anhang der von Gertrud Bing herausgegebenen Schriften Warburgs lässt sich anhand der späteren von Warburg vorgenommenen Ergänzungen nachlesen, dass dieser immer wieder zu seinen frühen Gedankengängen hinsichtlich des Einflusses der Astrologie auf die Ikonolo­gie zurückkehrte. So dachte er u. a. das Motiv der Venus sehr früh in Richtung Planetengottheit weiter. Auch schon im Kontext der Dissertation notierte Warburg, dass – nach den Aufzeichnungen Lorenzos de’ Medici – Simo­netta Vespucci im Monat April, d. h. dem Monat des Pla­neten Venus, gestorben sei (GS, 322).

Obwohl in der Dissertation explizit noch keine orienta­lischen Quellen bearbeitet wurden, sieht man aber anhand der verwendeten Textquellen, dass Warburg sie schon umkreist hat. Er entschlüsselte das Bildmotiv der Venus und der Frühlingsgöttin mithilfe der Texte aus der Entste­hungszeit der Bilder. In den späteren Jahren wäre er hier­bei nicht stehengeblieben, sondern hätte die Texte auf ihre Quellen hin weiter befragt und schließlich gefunden, dass hinter der Darstellung der griechischen Göttin Aphrodite (römisch Venus) die ägyptische Göttin Isis steht. Botticelli hatte darauf mit den herabregnenden Rosen und der Körper­haltung der Venus [16] angespielt. Rosen haben bei den Isis­weihen eine besondere Rolle: Die Oberpriester schreiten in einer Opferfeier und verzehren einige Rosen, die sie in der rechten Hand tragen:

Die Rose aber ist gerade durch die auf den Aion hinweisende Fünfzahl ihrer Blätter das Sinnbild ewigen Lebens und der Auferstehung geworden und hat als solches auch im christlichen Glauben ihre bekannte Rolle gespielt (Junker 1921-1922, 153).

Botticelli benutzte somit die doppelte Bedeutung der Rose als heidnisches und christ­liches Symbol vor allem in den Bildern, die scheinbar ein ausschließlich christliches Sujet darstellen. So malte er u. a. die Anbetung des Kindes vor einem blühenden Rosen­strauch, und Rosen umwehen auch die Geburt der Venus und begleiten den Frühling.

Sein späteres Augenmerk legte Warburg schließlich auf die beiden ägyptischen Götter Osiris und Isis mit ihren vielfältigen hellenistischen Umwandlungen. So rückte das Beiwerk auf den Bildern der Maler der Frührenaissance in seinen Fokus, weil er erkannt hatte, dass sich gerade bei den Attributen einer dargestellten Figur, bei ihrer Gestik oder dem sie umrahmenden Beiwerk orientalische Spuren auffinden ließen. Ob er sich mit den Ähren beschäftigte, die die Jungfrau Maria in den Händen hält, mit der Dar­stellung der Venus, der Athene, der eilenden Nymphe, der windzerzausten Fortuna oder im Dürer­-Aufsatz von 1905 mit der Pentheus-­Sage und dem Tod des Orpheus: In all diesen Darstellungen und Ausschmückungen fand er orien­talisch-­pagane Motive, weshalb er vielleicht zu Recht aus­rufen konnte: “Athen will eben immer wieder aus Alexan­drien zurückerobert sein” (GS, 534).

Schon Warburgs Dissertation war aber keine Arbeit, die ihre Forschungsüberlegungen darauf reduzierte, krimina­listisch die Vorbilder für ein Kunstwerk in der Realität zu suchen. Die Entdeckung, dass Botticelli Simonetta Vespucci gemalt habe, führte ihn vielmehr zu der Frage, weshalb Botticelli sie in den heidnisch-­antiken Kontext setzte und nicht ein weiteres Porträt von ihr angefertigt hatte. Warburg interessierte, welche Aussage der Renais­sance­-Künstler mit dem Bild vermitteln wollte.

Poliziano hat in den Stanze (Angelo Poliziano, Der Triumph Cupidos. Stanze, in Straiger 1974) über das Turnier von 1475 in Florenz berichtet und eine Vorgeschichte dazu erfun­den, die Warburg als textliche Vorlage für Botticelli nach­weisen konnte. Botticelli wollte, indem es an das große Turnier erinnert, das Giuliano de Medici zu Ehren Simo­nettas veranstaltet hatte, ihr Andenken lebendig erhalten (GS, 45). Warburg las daher die Darstellung Simonettas als Früh­lingsgöttin bei Botticelli als etwas Tröstliches, als bildliche Umsetzung des christlichen Glaubens an die Auferste­hung. Die religiöse Botschaft aber hatte der Maler nicht mit christlichen Motiven, sondern mit dem heidnischen Ritual dargestellt, das den Frühling als erneuerndes Leben feiert (GS, 46). 

Die Argumentation zeigt, dass schon der frühe War­burg aus der speziellen Quellenkritik eines einzelnen Kunstwerks einer allgemeinen Aussage über ein kulturel­les Ausdrucksphänomen einer ganzen Epoche auf den Grund zu gehen suchte. Die Renaissance wandte sich den antiken (heidnischen) Vorbildern zu, um damit parado­xerweise etwas zutiefst Christliches auszudrücken: Den Glauben an die Auferstehung Gottes. Neu war jedoch, dass der Auferstehungsglaube nicht mehr, wie im mittel­alterlichen Denken, mit dem Gottessohn, sondern mit re­alen Menschen dargestellt wurde. Botticellis Bilder sind noch immer zutiefst christliche Bilder, die die ‘alte’ Bot­schaft selbst jedoch in antik­heidnischen Formen vermit­teln. Dass die ägyptische Göttin Isis auch als Totengöttin für den Wiederauferstehungsglauben der Ägypter steht, beachtete Warburg in der Dissertation noch nicht. Doch et­was anderes fiel ihm auf: Wenn Botticelli, der nachweislich Simonetta Vespucci gekannt hatte (GS, 46), ihr die Züge der Früh­lingsgöttin verlieh, um auszudrücken, dass der Tod nicht das Ende der Dinge sei, griff er die heidnisch­bildliche Vorstellung auf, um sein Gefühl der Trauer auszudrücken (GS, 46f.). Diese Erkenntnis war für Warburg entscheidend: Die Maler der Frührenaissance nahmen überkommene Formen und Gestalten der heidnischen Antike auf und wandelten sie um, wenn sie eine Emotion ausdrücken wollten (GS, 48). 1905 im Aufsatz über Dürer nennt er das Verfahren ‘Pathos­formel’. Diese Erkenntnis ließ ihn nicht mehr los. Er wollte nachvollziehen, weshalb, wann und auf welche Weise die orientalischen Bildvorstellungen wieder durch­brechen und auf welchen “Wanderstraßen” sie in der eu­ropäischen Kultur anzutreffen waren. Bis zu seinem letz­ten Werk, dem Mnemosyne-Atlas, folgte er ihren Spuren und stieß folgerichtig auf die Arbeiten Franz Bolls.

Warburg erkannte im Verlauf der folgenden Jahren im­mer deutlicher, dass der Orient zwar viel von der griechi­schen Gedankenwelt übernommen hatte und in den ersten Jahrhunderten des Hellenismus eine reiche Literatur in griechischer Sprache in Asien entstanden war, dass aber – wie Boll es nannte – “nirgendwo die Unüberwindlichkeit orientalischen Wesens unmittelbarer zu spüren [ist] als in der bildenden Kunst” (Boll [1922] 1950), 293). Der Synkretismus des Hellenis­mus mit dem Orient zeigte sich vor allem immer dann, wenn ein Gefühl vermittelt werden sollte. Dass der Mensch in der Renaissance in den Mittelpunkt gerückt war, erschöpfte sich somit nicht mit der Zentralperspek­tive der Bilder, man wollte vielmehr die menschlichen Emotionen nicht mehr nur mit Worten beschreiben, son­dern sie auch zeigen [17].

Psychische Gestimmtheiten wie “Anbetung”, “Trauer”, “Eifersucht”, “Überlegenheit”, “Stolz” usw. sind Begriffe, die in Cesare Ripas Iconologia, die 1595 in Perugia erstmals publiziert wurde, als feste Personifikationen mit genauen Attributen und Körperhaltungen aufgeführt sind und seither vielfach in den Künsten zitiert wurden. Es ist das Verdienst Warburgs, erkannt zu haben, dass diese Ge­stimmtheiten vielfach mit heidnisch­orientalischen Motiven ausgedrückt wurden. Diesen Spuren ist er seit der Disserta­tion bis zum Mnemosyne-Atlas und den Ausstellungen über Sterndeutung im Münchner Deutschen Museum (1927) und im Hamburger Planetarium (1930) unermüdlich und immer tiefer nachgegangen. Der Austausch und die Freundschaft mit Boll waren dabei der wichtigste Grundpfeiler.

Der Kollege Boll

In den ersten Jahren ihrer Korrespondenz erwähnt War­burg immer wieder eine Arbeit, die ihn sehr beschäftige und ihm große Schwierigkeiten bereite. Mehrmals kün­digte er dem Kollegen an, er werde ihm nun bald den fertigen Text schicken können, für dessen Publikation in den Sitzungsberichten der Heidelberger Akademie sich Boll im Vorfeld mit großem Nachdruck bereits eingesetzt hatte. Doch Warburg lässt – zu Bolls großer Enttäuschung – einen Abgabetermin nach dem anderen verstreichen. Einen Text, den er für noch nicht abgeschlossen hielt, gab er nicht zur Publikation frei, mochte das für den Kollegen auch unangenehm sein. Sein wissenschaftlicher Anspruch war höher als höfliche Verpflichtung. Der Schifanoja-Aufsatz ist der erste Text Warburgs, der im engen Aus­tausch mit Boll entstanden war, den er dabei immer wie­der mit Fragen bestürmt hatte, wie:

Was bedeutet: Luna in Virgo, Venus im Steinbock, Apollo im Schützen, Jupiter im Widder u. Stier, Mars (Waage) in Conjunction mit Merkur (Skorpion), Perseus in medio coelo? Ist das nun die sog. Große Conjunction? (Warburg an Boll 1912, ohne Datum).

1912 trug Warburg schließlich seine Ergebnisse auf dem Internationalen Kunsthistorischen Kongress in Rom vor. Sein Beitrag wurde sehr positiv aufgenommen und festigte seinen Ruhm als ernstzunehmender Gelehrter der Kunst­geschichte nachhaltig. Glücklich berichtete er nach Hei­delberg:

Dafür kann ich wenigstens mit dem Resultat des Kongresses so wol im allgemeinen wie im besonderen persönlichen sehr zufrieden sein; denn dieser Kongress, von dem die Skeptiker meinten, daß er die wirkl. Internationa­lität nicht aushalten würde, erwies seine ganz unbestreit­bare jugendliche Lebenskraft. Außerdem schnitt ich per­sönlich mit meinem Vortrage über Ferrara sehr zufriedenstellend ab; das Thema mit seinen weiten inter­nationalen Perspektiven (dank Boll) u. seiner soliden phi­lologischen Basis eignete sich gut für so einen Kongress; ich lege Ihnen zwei Berichte bei. Ich gab natürlich nur die Grundzüge der Erklärg, und beschränkte mich auf die Er­klärg, eines einzigen Dekans; ich werde den Vortrag wol ganz im Bericht abdrucken lassen (mit 4 oder 5 Illustratio­ nen) und will ihn so machen, daß er auf die Heidelberger Abhdlgn. einen starken Appetit macht (Warburg an Boll, 9. November 1912).

Von den Fresken im Palazzo Schifanoja in Ferrara des in drei Streifen gegliederten Monatskalenders, die 1469-­70 von Borso d’Este in Auftrag gegeben worden waren, hatte man 1840 nur sieben wieder freilegen können (GS, 463). Warburg war es nun mit Hilfe Bolls gelungen, die indischen und per­ sischen Einflüsse auf die Darstellungen der Monatsbilder im Palazzo zu zeigen, und dafür war ihm vor allem ein Text hilfreich gewesen, den Boll als Beilage am Ende von Sphaera abgedruckt hatte: Aus der ‘großen Einleitung’ des Abu Ma’šar in der deutschen Übersetzung von Karl Dyroff.

Warburg bemerkte zunächst, dass in der Darstellung des Monatsbildes April bestimmte Aspekte wieder auftraten, die ihm schon in der Dissertation über Botticelli aufgefallen waren: Das dreiteilige Bild, das dem Tierkreis­zeichen Stier gewidmet war, zeigte in der oberen Reihe die olympischen Götter und wurde in diesem Fall von der Göttin Venus beherrscht, die mit “wallenden langen Haarlocken” auf einem Wagen fährt, der von Schwänen gezogen wird, während um ihren Wagen Hasen herum­springen (GS, 470ff.). Die Dekanreihe erinnerte Warburg daher an Botticellis Metamorphose Simonetta Vespuccis zur Ve­nus (GS, 478). Nachdem Warburg monatelang unermüdlich re­cherchiert hatte, konnte er mit Hilfe der arabischen Hand­schrift Abu Ma’šars nachweisen, dass diese Darstellung des Tierkreiszeichens Stier nur von dieser Quelle beeinflusst sein konnte, denn der Text erzählte:

Die Inder sagen, dass in diesem Dekan eine Frau aufsteigt mit reichem Haar auf dem Haupte, schön, kraushaarig, prächtig und einer Edel­geborenen ähnlich; sie hat ein Kind und hat Kleider an, die etwas angebrannt sind; sie ist bestrebt, Kleider und Schmuck für ihr Kind herbeizuschaffen (Aus der großen Einleitung des Abu Ma’šar, übersetzt von Karl Dyroff, in Boll 1903, 501).

In der 2. Reihe entdeckte Warburg weitere Darstellun­gen, die genau den Beschreibungen indischer Dekane des Tierkreiszeichens glichen, und die untere Reihe zeigte ganz offensichtlich das Hofleben im Stier­-Monat April. Der dreireihige Aufbau der Monatsbilder entsprach somit der Vorstellung in der Renaissance von der astrologischen Kongruenz zwischen Makro­ und Mikrokosmos, der Verbindungen zwischen Himmel und Erde, Planeten, Göttern und Menschen, Tieren und Pflanzen (GS, 464).

Rätselhaft blieb jedoch wieder das Beiwerk: Die um­herspringenden Hasen konnte sich Warburg lange nicht erklären. Mit Hilfe seines Assistenten Wilhelm Printz ent­deckte er schließlich, dass in der arabischen Handschrift Picatrix, die von König Alfonso in Toledo ins Spanische übersetzt worden war und später in einer lateinischen Übersetzung nach Italien gelangte, Venus als “von Hasen begleitet” beschrieben wurde (Picatrix in Bing 1961, 161).

In demselben Brief, in dem er Boll über den Erfolg in Rom berichtete, lud er ihn ein, sich an den Hochschulwochen im darauffolgenden Jahr in Hamburg mit einem Vortrag über Astrologie zu beteiligen:

Nun etwas neues: eine Reihe von hiesigen Professoren (Philologen, Juristen u. Mediziner) wollen privat, aber unter dem Prorektorat un­seres Unterrichtssenators v. Melle im Sommer 1913 einen zwei bis drei wöchentlichen Ferienkursus für ausländi­sche und deutsche Akademiker (Studenten u. junge Ge­lehrte) halten. Zu diesem Kursus werden auch nicht in Hamburg weilende deutsche Gelehrten hinzugebeten […], unsere Abteilung für Sprach-­ und Kulturwissenschaft hat sich zum Ziel gesetzt, den Stand der sprachwissenschaftl. Probleme (phonetisch u. geographisch (z. B. f. Afrika, Frankreich) u. einigen kulturwissenschaftlich interessan­ten Austausch­ u. Nachleben-­Fragen zu characterisiren, (Grundlagen d. Islam, Buddhismus in Japan, Religion in China) und nun möchte man von mir und von Ihnen etwas über die Bedeutung des antiken Weltbildes f. d. Kultur d. Gegenwart wissen. Zugleich möchte man dazu Bezold heranziehen, um auch nach dem fernsten Osten sehen zu können.

In Hamburg gab es seit 1764 die Tra­dition des sogenannten “Allgemeinen Vorlesungswesens”. Die Veranstaltungen waren für die Weiterbildung in be­stimmten Berufen eingerichtet worden. Im Laufe der Jahre lud man auch andere Wissenschaftler aus führenden Uni­versitäten ein, und Edmund Siemers stiftete schließlich 1911 ein Vorlesungsgebäude, das zum Zentrum des Vor­lesungswesens wurde. Insbesondere das 1908 errichtete “Kolonialinstitut”, aus dem später die Universität Ham­burg hervorging, beteiligte sich an den Vortragsreihen. Warburg, der sich zusammen mit seinem Bruder Max und Bürgermeister von Melle sehr für die Gründung einer Universität in Hamburg eingesetzt hatte, hoffte, dass mit den Hochschulwochen 1913 die Bürgerschaft endgültig von der Notwendigkeit einer Hochschule überzeugt wer­den könne. Umso enttäuschter war er, als diese das erneut ablehnte. Es sollte noch sechs weitere Jahre dauern, bis Hamburg seine Universität erhielt. Doch zum Zeitpunkt ihrer Gründung war Warburg schon schwer erkrankt im Sanatorium.

Warburg hatte für die Hochschulwochen 1913 auch Bolls engen Freund, den Heidelberger Altorientalisten und Semitisten Carl Bezold, eingeladen, der ein großer Kenner der babylonischen und assyrischen Kultur war.

Die Hochschulwochen wurden ein großer Erfolg und fe­stigten die Beziehungen zwischen den Männern. Boll schlug Warburg vor – als Zeichen ihrer wissenschaftli­chen Verbundenheit –, die drei Vorträge in einem gemein­samen Band mit dem Titel “Geschichte der Astrologie” in der damals populären Reihe Natur und Geisteswelt bei Teubner herauszubringen. Doch, wie schon zuvor bei dem Schifanoja­-Vortrag, zögerte Warburg und lehnte schließlich ab. Der Band erschien nur mit Bolls und Be­zolds Vorträgen unter dem Titel Sternglaube und Sterndeutung. Die Geschichte und das Wesen der Astrologie und ist Warburg gewidmet. Das Büchlein wurde ein gro­ßer Erfolg und mehrfach aufgelegt. Eine weitere Auflage hat Warburg nach Bolls Tod finanziert und notierte im Tagebuch der KBW am 27. September 1926: “Gestern Vormittag (circa 2 Jahre und 3 Monate nach dem Tode von Franz Boll) die 3. Auflage von Sternglaube und Stern­deutung eingetroffen. Macht einen guten Eindruck” (GS Tagebuch, 14). Am selben Tag heißt es etwas später: “Die dritte Auflage von Boll schlug ein: Exemplare an Gressmann, Zimmern, Tschudi und an die Getreuen” (GS Tagebuch, 14). Auch Thomas Mann wur­de ein Exemplar zugesandt, der gerade die Arbeiten an sei­ner Joseph­-Tetralogie begonnen hatte und erfreut für die Gabe dankte, weil das Buch ihm sehr gelegen kam, da er sich augenblicklich “mit frühorientalischen, babylonisch­-kanaanitisch­-ägyptischen Dingen beschäftige im Zusam­menhang mit einer etwas gewagten Arbeit” (Thomas Mann an Warburg, 7 Dezember 1926 [WIA GC/17752]). So bildeten Bolls und Bezolds Kenntnisse der antiken Astrologie eine wesentliche Quelle für Thomas Manns Roman [18]. 

Zu einer weiteren Zusammenarbeit der beiden Gelehrten kam es 1915: Warburg hatte Boll schon kurz nach ihrer Bekanntschaft gebeten, den jungen Fritz Saxl, der seit 1912 als Assistent in der Bibliothek Warburg angestellt war, über die Heidelberger Akademie zu finanzieren, damit der einen Katalog wichtiger mittelalterlicher Handschriften zusam­menstellen konnte, der schließlich 1915 in den Sitzungs­berichten der Heidelberger Akademie publiziert wurde (Fritz Saxl, Verzeichnis astrologischer und mythologischer illustrierter Handschriften des lateinischen Mittelalters. Der zweite Teil konnte erst nach dem Krieg erscheinen: Saxl 1927). 

Da Saxl im Ersten Weltkrieg als Soldat eingezogen worden war, kümmerten sich die beiden Freunde um die Fertig­stellung des Manuskripts, insbesondere um die Erstellung der Indices, was dem jungen Nachwuchswissenschaftler die Anerkennung der wissenschaftlichen Academia brin­gen sollte. Der Austausch und die Sorgfalt, die beide für die Arbeit des jungen Kollegen aufwandten, zeigt, dass es Warburg und Boll neben ihren wissenschaftlichen Fragen und eigenen Arbeiten immer auch um die Förderung der nachfolgenden Generation gegangen war.

Wenige Jahre später bemühte Boll sich ein drittes Mal aktiv um eine Publikation Warburgs: Es war der Aufsatz Heidnisch-antike Weissagung in Wort und Bild zu Luthers Zeiten, an dem Warburg seit 1917 gearbeitet und dessen Fertigstellung sein sich stetig verschlechternder Gesund­heitszustand verhindert hatte. Warburg war die Gleichzeitigkeit der Polarität zwischen Magie und Logik in den Kreisen der Humanisten aufgefallen, und er sah in der Untersuchung dieser Simultaneität den eigentlichen “Sinn und Zweck der Kulturwissenschaft” (GS, 427). Anhand Luthers Verachtung für den Sternenglauben und Melanchthons Faszination für Weissagungen wollte Warburg das geistige Klima zur Zeit der Reformation darstellen und wandte sich am 8. März 1917 (Nr. 143) an Boll mit den Worten:

Ich hatte mir aber schon eine lange Frageliste für Sie vorgemerkt, die mir selbst zu beantworten dadurch noch erschwert wird, dass die Berliner Bibliothek seit Mitte Februar nichts mehr nach auswärts schickt. Ueber mittelalterliche Geschichtsauffassung schreiben heisst über die Lehre von den Konjunktionen Bescheid zu wissen. Nun fehlt es mir zunächst ein auch für den Laien brauchbares Handbuch, in dem er die Planetenkonjunktionen, womöglich für jedes Jahr oder wenigstens die sogen. grossen Konjunktionen finden kann und ebenso die Sonnen­finsternisse. Sie sind mathematisch ja so unterrichtet, dass Ihnen auch fachtechnische Werke verständlich sind, was ich von mir leider nicht sagen kann. So muss ich z. B. jetzt in Erfahrung bringen, welche Planeten im November 1484 in der sogen. grossen Konjunktion waren und ob eine ähnliche Konjunktion etwa 1483 vorkam. Daran knüpft sich eine andere Frage: da die Konjunktion im November im Zeichen des Skorpions vorkam und an die­ses Zeichen sich das “Haus” der kirchlichen Vorgänge knüpft (N.B. Könnte ich meinen Hagelstange, Nativitäts­kalender, jetzt zurückerhalten?), so bitte ich Sie folgendes zu überlegen: Sie erinnern sich vielleicht, dass ich aus der spanischen Handschrift nachweisen konnte, dass das Monatsbilderrad des Skorpions ein überarbeiteter Kult­kalender des Asklepiosdienstes war. Ist Ihnen nun be­kannt, ob der November oder Skorpionszeichenmonat irgendwie in Kleinasien (oder sonstwo) als Asklepiosmonat gefeiert wird?

Warburg hatte nämlich nicht nur bemerkt, dass Horoskopen eine gravierende Bedeutung in der Politik zukam, sondern dass diese Gläubigkeit so weit ging, dass der führende Sterndeuter Lucas Gauricus, ein Anhänger der Gegenreformation, Luthers Geburtstag um ein Jahr von 1483 auf 1484 verschoben hatte (Lucas Gauricus, Tractatus astrologicus, Venedig 1552), um mit Hilfe des Geburtshoroskops belegen zu können, dass der Erneuerer des (falschen) Glaubens im Jahr der Großen Konjunktion geboren sei, womit unweigerlich Katastro­phen einhergehen würden (GS, 440).

Am 24. April 1917 teilt Warburg Boll mit: “Da­bei bin ich einer höchst interessanten Sache bei gestriger Ar­beit […] auf die Spur gekommen, von der ich hoffentlich in absehbarer Zeit sogar etwas zum Vortragen in der Hdbg AK habe. Sie wittern richtig, natürlich, es ist was mit Luther…”. Boll hatte ihn am 24. März 1917 mit vielen wichtigen Litera­turhinweisen und astrologischen Hinweisen über Cardanus, Luther und Kalenderberechnungen versorgt. Mit Hilfe des Boll’schen astrologischen Wissens konnte Warburg seine These festigen, dass die:

Italienische[n] Astrologen Gauricus und Cardanus […] das Geburtsdatum willkür­lich verändern, um damit mehr oder weniger feindselige Politik zu betreiben; dass also bei Lebzeiten Luthers zwei Geburtsdaten nebeneinander herliefen und es für Luthers Biographen gleichsam zwei kalendarische “Wahrheiten” – eine historische und eine mythische – gab und ebenso zwei Arten von Geburtsschirmherrn: einen deutsch-­christ­lichen Heiligen, den hl. Martin, und ein Paar heidnischer Planetendämonen, Saturn und Jupiter (GS, 444f.).

Das gleiche Phänomen Luther als Doppelherme fand Warburg nun in den bildnerischen Darstellungen. Die Holzschnitte aus jener Zeit, die als neues Propagandamittel entdeckt und verbrei­tet worden waren, schwankten zwischen dämonisch-­fin­steren Abbildungen, die einen Luther zeigten, dem der Teufel auf der Schulter sitzt, und einen Luther, der eine Rose in der Hand hält, womit das babylonische Motiv für Heiligkeit aufgegriffen wurde.

Im Oktober 1918 schickte Warburg die Luther­-Studie, die er kurz zuvor als Vortrag in Berlin gehalten hatte, an Boll zur Korrektur und bat ihn um weitere Hinweise, weil er sie ausarbeiten und publizieren wollte. Die Parallelität zwischen der politischen Hetze in Zeiten der Reformation und den gegenwärtigen Kriegsberichten machte beide Freunde gleichermaßen betroffen [19]. Warburgs Kräfte reichten jedoch nicht mehr aus, gegen die Krankheit zu kämpfen. Er übergab Boll das nicht ab­geschlossene Manuskript ohne Hoffnung auf eine spätere Publikation. Der jedoch schrieb ihm am 14. August 1919 ermunternd: “Heute hoffe ich gegen Abend mit der Lektüre Ihrer grossen Arbeit beginnen zu können. Vor allem bin ich begierig, wie Ihnen die gestrige starke An­strengung bekommen ist. Hoffentlich recht gut, damit wir in einiger Zeit unsere Unterhaltungen fortsetzen können”. Und etwas später ergänzte er voll Zuversicht:

Gestern bin ich also an die Lektüre Ihres Vortrags gegangen und habe ihn gleich mit stärkstem Interesse von einem Ende zum anderen gelesen, die Beilagen wenigstens durchge­blättert. Es ist ja alles vortrefflich und nicht nur innerlich, sondern auch im äusserlichen in so guter Verfassung, dass der Druck ohne weiteres begonnen werden kann. Für ein halbes Dutzend oder etwas darüber, lauter Kleinigkeiten, müssen Sie mir die betr. Erklärung, die “authentische Inter­pretation” beim nächsten Besuch geben; das wird wenig Zeit kosten. Von der Abschrift von Luthers Vorrede zu Lichtenberger 1527 sind nur S. 1­16 und dann 31­-35 da, da fehlt also entweder etwas in der Mitte oder am Schluss in dem Convolut oder aber Sie wollten überhaupt nicht alles mitteilen, dann wäre der Endpunkt noch näher zu bestim­men, wo der Text im Druck aufhören soll. Aber das ist alles leicht zu machen und dem Druck steht sonst gar nichts soviel ich sehe im Wege. Also wollen wir sobald es geht darüber weiter sprechen – das Wann hängt auch von Ihnen mit ab.

Boll setzte sich mit all seiner Kraft und Zeit dafür ein, dass der Text 1920 in den Sitzungsberichten der Heidel­berger Akademie der Wissenschaften erscheinen konnte. 

Der Freund Boll

Immer wieder unterbrach Boll in den folgenden Jahren seine eigene Arbeit und besuchte Warburg im Sanatorium. Er wurde auch für die Familie in Hamburg eine unver­zichtbare Stütze und deren Gewährsmann hinsichtlich der – der Krankheit zum Trotz – weiterhin bestehenden wissenschaftlichen Befähigung Warburgs. Boll besprach den Aufbau der Luther­-Studie mit dem Erkrankten und nahm nach dessen Wünschen Änderungen am Manuskript vor. Er hatte schnell erkannt, dass – wenn es Warburg auch noch so schwerfiel – nur die Arbeit es vermögen könne, ihn aus dem Dunkel der Krankheit wieder ins Leben zurück­zuführen. Boll sollte schließlich recht behalten, auch wenn er selbst Warburgs glückliche Genesung und Heimkehr nach Hamburg im August 1924 nicht mehr erlebt hat.

Die gemeinsame Arbeit am Luther­-Manuskript ist somit auch ein Dokument darüber, dass Boll inzwischen nicht nur ein unverzichtbarer wissenschaftlicher Dialog­partner, sondern auch ein treuer Freund geworden war. Boll schrieb in den folgenden Jahren unzählige Postkarten und Briefe an Warburg, ohne umgekehrt oft von diesem zu hören. Er berichtete von dem akademischen Leben nach dem Krieg, seinem Ferienkurs über Platon, den er für heimgekehrte Gymnasiallehrer im Schwarzwald hielt [20], von Prüfungen, einem Forschungssemester in Italien, wo er u. a. auch Warburgs frühere Bekannte aufsuchte. Die beiden Freunde schmiedeten Pläne für eine Stiftung für die Akademie und Universität Heidelberg mit Geldern, die Warburgs in Amerika lebender Bruder Paul zugesagt hatte, womit sie Publikationen finanzieren wollten, die in den Jahren der Inflation zunehmend unerschwinglich wurden. Vor allem aber sprach Boll immer wieder dem Zweifelnden und Verzweifelten Mut zu:

Lieber Freund, also seien Sie ein wenig getrost; wenn Sie mein Besuch ein bisschen froher stimmen kann, so werde ich glücklich sein. Sie dürfen gewiss sein, dass ich Ihrer sehr, sehr oft gedenke und immer hoffe, dass Sie über all die arge Not noch einmal Herr werden und ruhigen Herzens eine gute Reihe von Jahren geniessen können. Dann werden wir uns hoffentlich an anderer Stelle noch oft sehen und wieder an die Arbeit setzen können. Ihre grosse Abhandlung bin ich eben in Begriff noch einmal zu lesen und glaube, Sie dürfen eines starken Eindrucks und Erfolges sicher sein: solche konzentrischen Säfte haben nicht viele zu bieten (Boll an Warburg, 23 März 1921).

Im Sommersemester 1922 kam Warburgs Sohn Max Adolph zum Studium nach Heidelberg, und Boll nahm ihn unter seine Fittiche, berichtete dem Vater über dessen Fortschritte im Studium und versuchte zugleich dem jun­gen Mann, der eigentlich Maler werden wollte, ein wenig den Vater zu ersetzen [21].

Während Warburg allmählich über die Arbeit ins Leben zurückfand, kam für Boll eine schwere Zeit. Sein enger Freund und Kollege, mit dem er viel zusammengearbeitet und in permanentem Dialog gestanden hatte, Carl Bezold, starb am 21. November 1922. Und wenige Monate später, im Januar 1923, musste Boll seinem Freund mitteilen, dass seine Frau Ida schwer erkrankt war. Ida Boll starb nur 14 Tage später. Bolls Brief-­ und Kartenstrom an Warburg ver­siegte für einige Wochen. Im Mai 1923 sahen sich die beiden Freunde ein letztes Mal. Warburg hatte kurz zuvor, am 21. April, den Vortrag über den “Schlangentanz” bei den Pueblo­-Indianern vor einem ausgewählten Publikum, darunter auch sein Sohn Max Adolph, in Kreuzlingen gehalten. Ein Vierteljahrhundert zuvor hatte er auf einer Amerika­-Reise anlässlich der Hochzeit seines Bruders Paul das Gebiet der Pueblo-­Indianer besucht und diesem Tanz beiwohnen können. Die Erinnerung an dieses Erlebnis diente ihm nun als weiterer Beleg seiner kulturwissenschaftlichen These, dass magische Praktiken nicht nur der dämonischen Bändigung dienen, sondern sich mit ihnen auch ein Umschlagsmoment von Magie in Vernunft in der kulturgeschichtlichen Ent­wicklung zeigen lasse: Das Schlangensymbol war vom angsteinflößenden Tier im magischen Glauben zum schmük­kenden Beiwerk des Äskulapstabes, ein Attribut für die medizinische Zunft, geworden (Warburg [1923] 1988, 59). Dieses Phänomen des Umschlagens eines bildlichen Motivs in seine entgegen­ gesetzte Bedeutung bildete in den folgenden Jahren auch die Grundlage für die Zusammenstellung des Mnemosyne-Atlasses, mit dessen Vorarbeiten Warburg allmählich in Kreuzlingen begonnen hatte. Auf dem Prinzip der bildlichen Doppelherme baute er die Ausstellungen über Sternglauben und Sterndeutung auf: im Deutschen Museum in Mün­chen (1927) und für das Planetarium in Hamburg, dessen Realisierung er jedoch nicht mehr erlebt hat.

Während Boll im Frühjahr 1924 ein letztes Mal Italien bereiste, nahm Warburg seine Arbeit wieder auf und knüpfte an frühere Gedanken an. Ihn beschäftigte nun die Darstellung der kuhköpfigen babylonisch-ägyptischen Göttin Isis­-Hathor und andererseits die genauen mathe­ matischen Berechnungen des Himmels.

Während Warburgs Krankheit hatte sich die Familie wie­ der an den früheren Assistenten Fritz Saxl gewandt und ihm kommissarisch die Leitung der Bibliothek übertragen. Saxl arbeitete ab 1921 intensiv daran, aus der bisher privaten B. W. eine öffentliche Einrichtung mit dem Ziel zu machen, sie der Universität anzugliedern. So lud er – in Abstimmung mit Warburg – regelmäßig Kollegen zu Vorträgen ein, die er als “Vorträge aus der Warburg Bibliothek” herausgab. Die Reihe wurde eröffnet mit den Beiträgen von Fritz Saxl, Ernst Cassirer, Adolf Goldschmidt, Gustav Pauli, Eduard Wechssler, Hellmut Ritter und Heinrich Junker. Saxl hatte als einen der ersten Vortragenden Boll einge­laden:

Die Bibliothek Warburg ist doch nur etwas, wenn sie zeigt, dass in ihr wissenschaftlich gearbeitet wird, wenn es ihr gelingt, einen Umkreis von Forschern zu er­fassen, die an der Bearbeitung des in ihr enthaltenen Mate­rials sich beteiligen. Notwendig ist dazu, dass auch weitere Kreise von Gelehrten im einzelnen erfahren, was diese Bibliothek will. Es sollen daher im kommenden Jahr all­monatlich einmal Vorträge aus dem Gebiet des Nachlebens der Antike gehalten und die Resultate dieser Zu­sammenkünfte sollten in einer Art Jahrbuch niedergelegt werden. Nun kommt die Bitte und die Frage: wäre es Ihnen möglich irgendwann einmal im Laufe des nächsten Jahres nach Hamburg zu kommen, einen Vortrag zu halten und über welches Thema? Ich brauch Ihnen doch nicht zu sagen, dass es fast unmöglich ist, eine Serie von Vorträgen über dieses Thema und in der Bibliothek Warburg halten zu lassen, wenn Sie nicht dabei sind (Fritz Saxl an Franz Boll, 16. Juni 1921, Nachlass Franz Boll, Heid. Hs. 2108, 191).

Doch Boll lehnte aus Gründen der Arbeitsüberlastung ab. Warburg seinerseits wiederholte am 23. März 1924 nachdrücklich die Einladung, die auch Saxl zuvor schon mehrfach erneuert hatte: “Jetzt lassen wir Sie aber als Vortragenden nicht mehr aus. Was soll all meine Mühe, wenn Sie als der ‘Sternenfreund’ [22] nicht in der B. W. sprechen. Ueber den Mikrokosmos z. B.?”. Doch Boll war gesund­ heitlich angeschlagen aus Italien zurückkehrt. Am 5. Mai 1924 schrieb er schon sehr geschwächt ein letztes Mal an seinen Freund. Zwei Monate später, am 3. Juli 1924, starb Franz Boll.

Das Andenken an Boll: Der Stab wird an Cassirer übergeben

Schon in Kreuzlingen hatte Warburg beschlossen, Cassirer und Boll zusammenzuführen und mit ihrer Unterstützung die Wissenschaft über die Kultur methodisch auf ganz neue Füße zu stellen. An seinen Bruder Max berichtete er später:

Das unverdiente Glück, das mir in Boll einen persönlichen wie wissenschaftlich gleichermaßen treuen und überragen­den Gelehrten verschaffte, wurde durch seinen frühen Tod im Jahre 1924 für mich, gerade als ich mich anschickte Kreuzlingen zu verlassen, schwer beeinträchtigt. Dafür war als Vorläufer besserer Zeiten ein zweiter Freund als Helfer in meinen Gesichtskreis getreten: Ernst Cassirer (Aby Warburg an Max Warburg am 13. Juni 1928 in GS, Briefe, 713).

Verband Warburg mit Boll das gemeinsame Interesse für die antike Astrologie vor allem in ihren divinatorischen Ausprägungen, trafen sich Cassirer und Warburg zunächst über der Diskussion mit der mathematischen Astrologie. So war Johannes Kepler nicht zufällig Thema ihres ersten per­sönlichen Gesprächs. Hatte Warburg im Schlangensymbol ein kulturelles Umschlagsmoment entdeckt, so sah er in der Person Kepler eine Übergangsfigur zwischen magischem Aberglauben (Kepler hatte u. a. Wallenstein das Horoskop gestellt) und rational­mathematischer Erkenntnis.

Die Verdrängung der Planetengötter als Sphärenlenker, die schließlich der mathematischen Himmelsberechnung der Planeten durch Kepler weichen mussten, hatte War­burg seit Beginn seiner Korrespondenz mit Boll beschäf­tigt. Schon 1895 – zwei Jahre nach der Dissertation – hat­te er sich in dem Aufsatz über die Intermedien eingehend mit Platons Bild der Weltachse als Spindel befasst, wie der sie am Ende des zehnten Buches der Politeia beschrieben hatte. In Vorarbeit auf den Mnemosyne-Atlas, den er nach Bolls Tod in Angriff nahm, erkannte er nun die Linie, die von Platons “allegorischem Bild” der Weltachse, um die sich die Himmelssphären konzentrisch in immer schnelleren Bewegungen drehen [23], direkt zu den Epizyklen des Ptole­mäus und Keplers Berechnungen der Ellipse führte.

Im Gespräch mit Cassirer am 10. und 11. April 1924 in Kreuzlingen sprach Warburg daher vor allem über den Mathematiker Kepler, der mit Hilfe der Himmelsbeobach­tungen Tycho Brahes und dessen Rudolfinischen Tafeln als Erster die ellipsenförmige Bahn des Mars berechnet hatte (Johannes Kepler, Neue Astronomie, 103 ff.). Damit hatte Kepler der Sternenkunde und der Vorhersage der Zukunft einen völlig neuen Akzent geben können. Der mit astrologischen Fragen bestens vertraute Kepler vereinte in sich auf ideale Weise jene Spannung zwischen abergläubischem Sternenglauben und rationaler Sternen­kunde, auf deren Polarität die Kultur für Warburg gründet.

Warburg bat daher seine Tochter Frede am 29. Februar 1924 in einem Brief, in dem er ihr zum bestandenen Ab­itur gratulierte, um genauere Angaben zur “Geschichte der Theorie der Harmonie der Sphaeren” [24] und vor allem um bibliographische Nachweise zu den mathematischen Büchern von Apollonius über die Kegelschnitte. Beides, vermutete er, sei in Moritz Cantors Vorlesungen über Geschichte der Mathematik zu finden. Warburg wollte genau wissen, wann die Arbeiten des Apollonius von Perge (3. Jh. v. Chr.) über die Kegelschnitte wiederentdeckt worden seien (WIA GC/33939). Cantor, der ein Kollege Bolls in Heidelberg und mit ihm gut bekannt war, hatte 1907 Vorlesungen über die Geschichte der Mathematik veröffentlicht, die bei Teubner erschienen und in jenen Tagen als das Standardwerk für Mathematikgeschichte galten. Überdies hatte Cantor in einem Aufsatz über Kopernikus, Brahe, Galilei und Kepler ebenfalls über die bemerkenswerte Koexistenz von Wissen­schaft und Aberglauben im 16.­-17. Jahrhundert geschrieben: “Wir wollten vielmehr gerade an diesem auffallenden Bei­spiele zeigen, wie es in der Geschichte der Wissenschaften zwei Kräfte giebt, aus deren Wechselwirkung Alles ent­steht: Die treibende Kraft des Genius, die erhaltende Kraft der Unwissenheit” (Cantor 1888, 91). Was Warburg anhand des Luther’­schen Horoskops mit Bolls Hilfe und der Darstellung des neuen Glaubens untersucht hatte, hatte somit auch Bolls Kollege Cantor 40 Jahre zuvor interessiert: Cantor betonte gleichermaßen, wie häufig im 16. Jahrhundert die sogenann­ten “Vorverkündigungen” vielfach “Nachverkündigungen” gewesen seien (Cantor 1888, 87), und hatte sich in diesem Zusammenhang mit Cardanus beschäftigt (Cantor 1905). 

Warburg ging somit davon aus, dass Kepler Apollonius gekannt haben müsse, um den geometrischen Körper der Ellipse als Möglichkeit zur Planetenberechnung in seine Überlegungen einzubeziehen [25]. Apollonius hatte die Planetenbewegungen selbst nicht mit Hilfe der Kegelschnitte erklärt, sondern mit Hilfe der Epizykeltheorie [26]. Apollo­nius, genau wie Kepler ein Platonschüler [27], war Gegen­stand des Gesprächs mit Cassirer. Warburg stellte näm­lich die These auf, dass Keplers Fokussierung auf die Figur der Ellipse kulturwissenschaftlich eine entscheidende Stufe darstellte, weil er die antike Kreisvorstellung der Planetenbahn überwunden hatte [28]. Das wollte er mit Cassirer – der gerade mit der Ausarbeitung seiner Philosophie der symbolischen Formen (Cassirer [1925] 1994) beschäftigt war, diskutieren. Warburg hatte Cassirers Vortrag Eidos und Eidolon. Das Problem des Schönen und der Kunst in Platons Dialogen gelesen, den dieser am 27. Januar 1923 in der Warburg Bibliothek gehalten hatte. Am selben Tag, an dem Warburg Frede um Recherchen über Apollonius bat, schrieb er an Cassirer: “Der Kampf zwischen monstruosem εἴδωλον mit den Ideen der Götter läßt sich mit Sicherheit packen und in seinen Verwandlungskämpfen belegen: die Sterngötter kämpfen gegen sich selbst, die zu Daemonen missverstanden wer­den” (Warburg an Cassirer, 29. Februar 1924 in Krois 2009, 64) Warburg konnte zu Recht davon ausgehen, dass Cassirer seine Überlegungen verstehen und vermutlich auch teilen würde. Wie schon zuvor seine Familie weist er nun auch Cassirer auf seinen Aufsatz über die Theater-kostüme (GS, 259-300) mit den Worten hin: “Sodann möchte ich Sie bitten sich von meiner l[ieben] Frau m[eine] Studie über die Aufführung der Harmonie der Sphären (nach Plato, Briefe) mit Musik 1589 in Florenz erklären zu lassen, die ich reconstruiert habe. Da wird die Platonische Idee – Drama – zur alten Oper” (Warburg an Cassirer, 29. Februar 1924, in Krois 2009, 64). Erst am 20. März beantwortete Frede Warburgs Frage:

Heute habe ich die Sache über die Kegelschnitte des Apollonius nachgeschlagen. Ob es aber ganz so ist wie Du es haben willst, weiß ich nicht genau, denn darüber, was aus seinen Schriften geworden ist, steht sehr wenig im Cantor. Es sind im ganzen acht Bücher über die Kegel­schnitte. Die ersten vier haben sich im griechischen Urtext erhalten, das achte ist verloren, und die übrigen drei Bü­cher wurden erst im 17. Jahrhundert aus einer arabischen Übersetzung bekannt (Frede Warburg an Aby Warburg, 20. März 1924 [WIA GC/33943]).

Warburg hätte weit mehr mit Fredes Brief anfangen können, wenn sie im Cantor weitergeblättert hätte bis zu dem Mathematiker Willebrord Snellius, der in Prag Tycho Brahe und Kepler kennengelernt und 1608 “die Wieder­herstellung der apollonischen Schrift περι διωρισμενης τομής, über den bestimmten Schnitt” (Cantor [1892] 1900, 654), veröffentlicht hatte. Ein Jahr zuvor, 1607, hatte Marino Ghetaldi bereits eine Wiederherstellung der Apollinischen Schrift περὶ νεύσεων versucht (Cantor [1892] 1900, 653).

Wie wichtig Warburg diese Informationen waren, zeigt, dass er sich mit derselben Frage um Auskunft über Apollonius am 24. März 1924 an Boll wandte. Doch der war gesundheitlich schon zu geschwächt und konnte nicht mehr antworten. So gab schließlich Cassirer nach ihrer persönlichen Begegnung endlich die gewünsch­te Auskunft:

Sehr verehrter, lieber Herr Professor! Vor­ stehend nur einige wenige Notizen im Anschluß an unsere letzte Unterhaltung – ich habe sie hier mit Hilfe von Gawronsky’s sehr schöner Bibliothek leicht zusammen­stellen können. Lassen Sie mich Ihnen bei dieser Gelegen­heit noch einmal, wenn auch nur mit einem Worte, sagen, wie froh ich bin, dass ich Sie nun doch einmal eingehend gesprochen habe, – wie viel mir durch das Gespräch mit Ihnen bestätigt, wie viel mir zugleich neu gegeben wurde. […] Mit den besten Wünschen für Ihre Genesung und für ein baldiges dauerndes Zusammensein und Zusammenarbeiten von uns beiden (Ernst Cassirer an Aby Warburg, 12. April 1923, in Krois 2009, 65ff.).

Dass dieser Besuch auch für Warburg selbst einen Durchbruch hinsichtlich seiner Genesung bedeutete, ahn­te er noch nicht. In seiner Antwort an Cassirer hört man aber deutlich heraus, wie wichtig ihm dessen Bestätigung seiner Keplerüberlegungen war: “[…] Dass die Ellipse der Ausgangspunkt oder ein Wetterscheide-mal der Epoche ist, wenn wir beide eine ‘allgemeine Kulturwissenschaft als Lehre vom bewegten Menschen’ schaffen wollen” (Aby Warburg an Ernst Cassirer, 15. April 1924, in Krois 2009, 67).

Und selbstbewusst schreibt er Ende 1924 an den Anthro­pologen Franz Boas: “Die Arbeiten von Ernst Cassirer, die ich Ihnen beilege, (wozu bald ein neues sprachphiloso­phisches Werk treten wird) zeigen, zu welchem Ideengang das Material der Bibliothek Warburg führt. […] Mir scheint der heuristische Wert von Cassirers Studie über jeden Zwei­fel erhaben und wird sogar einst […] eben die Brücke vom exakten Historismus zur Erkenntnistheorie schlagen” (Aby Warburg an Franz Boas, 13. Dezember 1924, in GS Briefe, 616).

Das Andenken an Boll

Cassirers Besuch leitete die langersehnte Genesung War­burgs ein. Am 13. August 1924 konnte er nach Hamburg zurückkehren und hatte wieder große Pläne: Die Biblio­thek Warburg sollte nicht mehr in seinem Privathaus un­tergebracht sein, sondern ein neues Gebäude erhalten. Außerdem verfolgte er die Arbeit am Mnemosyne-Atlas weiter und organisierte Ausstellungen über den Stern­glauben in München und eine als Dauerausstellung ge­plante für das Planetarium in Hamburg.

Doch zuerst galt seine ganze Aufmerksamkeit dem Ge­denken des Freundes Boll. Zehn Monate nach dessen Tod lud Warburg am 25. April 1925 in seine Bibliothek in Hamburg zu einer Gedächtnisfeier ein, auf der er eine Rede hielt, die an die Stationen ihrer gemeinsamen Arbeit erinnerte. Die Gedenkrede ist aber mehr als eine Reminis­zenz an gemeinsame Jahre. Warburg hat sie wie ein Kad­disch jatom gestaltet: Im jüdischen Glauben gibt es die Vorstellung, dass eine Lücke bei denjenigen entsteht, die die Gebote befolgen, wenn ein Jude stirbt. Die Seele des Verstorbenen steigt zu Gott empor, wenn sein Sohn oder ein anderer Angehöriger seinen Platz einnimmt und seine Pflichten übernimmt. Das machte Warburg mit der Ge­denkrede deutlich. Er trat das Erbe seines “Waffengefähr­ten” nicht nur an, indem er dessen Bibliothek erwarb, sondern mit der Nennung all der Etappen ihrer gemeinsa­men Arbeit auf dem Gebiet der Astrologie nahm Warburg Bolls Tätigkeit als weiterzutragendes Vermächtnis vor den Kollegen, Freunden und Verwandten an. Warburgs Aktivi­täten in den ihm noch verbleibenden vier Jahren standen im Zeichen dieses öffentlich gesprochenen Kaddisch jatom.

Ein Jahr später beauftragte er den Hamburger Maler Walter Geffcken, der auch Thomas Mann porträtiert hat­te, ein Bildnis Bolls anzufertigen, und notierte im Tage­buch der KBW: “Nachmittags Maler Geffcken da, der das Porträt von Boll mitgebracht hat. Etwas zu vorkriegs­mäßig, aber nicht schlecht (Tagebuch, 20). Wenige Tage zuvor hatte er schon bestimmt, dass das “Bild Boll ins Carlyle Zimmer” (Tagebuch, 13) solle. Das ist insofern eine bedeutsame Aussage, als Carlyles Sartor Resartus seit seinen Studententagen Warburgs Lieb­lingsbuch war.

Der Bau der KBW und die Vita contemplativa

Warburg hatte schon in seiner Studentenzeit angefangen, Bücher zu sammeln und sich für seine Forschungsarbeiten systematische Handapparate anzulegen. Im Laufe der Jah­re war seine Bibliothek so angewachsen, dass der Wohn­raum für die Familie durch die ständig weiterwachsende Bibliothek immer beengter wurde: “Die Bücher waren überall. Sie beherrschten den Alltag, sie überschwemmten die Wohnräume, sie dominierten das Familienleben” (Michels 2007, 73).

Hinzukam, dass vor allem Saxl sehr darauf drängte, die Bibliothek als öffentliches Forschungsinstitut zu etablie­ren (von Stockhausen 1992, 30). Hans­-Michael Schäfer vermutet außerdem, dass die Familie eine Trennung für Warburg zwischen Arbeit und Privatleben ermöglichen wollte, um seine Gesundheit nach der Rückkehr aus Kreuzlingen nicht wieder zu ge­fährden (Schäfer 2003, 212). Die Baulücke, die die Familie Warburg 1909 bereits gekauft hatte, wurde nun in Erwägung gezogen, nachdem Warburg den Vorschlag, das Forschungsinstitut im Haus Wedell in der Neuen Rabenstraße 31 einzurich­ten, abgelehnt hatte (von Stockhausen 1992, 31ff.).

Bei dem Bau der KBW, den Warburg in enger Ab­stimmung mit den Architekten entworfen hatte, hat er je­des Detail genau durchdacht (von Stockhausen 1992, 42f.). Und auch hier finden sich Spuren an die gemeinsamen Jahre mit Boll.

Saxl hatte, ohne Rücksprache mit Warburg gehalten zu haben, den Architekten Felix Ascher beauftragt, einen Entwurf für das schmale Baugrundstück in der Heilwig­straße 116 vorzulegen (von Stockhausen 1992, 45). Die Baugeschichte der KBW zeigt, dass die Kulturwissenschaftliche Bibliothek eigent­lich vier Architekten hatte, die alle ihre deutlichen Spuren hinterlassen haben: Felix Aschers Erstentwurf ist noch in der Fassade zu sehen, Fritz Schumacher entwarf die Mne­mosyne­-Inschrift für den Türbalken des Eingangsbe­reichs, Warburg kämpfte für die Umsetzung des ellipti­schen Lesesaals, und Gerhard Langmaack, der schließlich der ausführende Architekt wurde, entwarf die Rosette als Oberlicht im Lesesaal (von Stockhausen 1992, 52ff.).

Diese vier Merkmale, die der KBW von Anfang an etwas Besonderes verliehen haben, sind zutiefst mit Warburgs Forschungsarbeit verbunden. Sie visualisieren sie gleichsam architektonisch. 1926 berichtete Warburg den Brüdern in Amerika voll Freude:

Am 1. Mai wurde nun die ‘Ellipse’ mit einem Vortrag von Cassirer über Freiheit und Not­wendigkeit in der Philosophie der Renaissance ohne wei­tere Förmlichkeiten de facto eingeweiht. Eine feinere und stärkere Stimmgabel für die Seelensymphonien, die wir dort zu erleben hoffen, hätte ich mir nicht wünschen können. Wie er es verstand, längst verschwundene Denker nur durch das Wort zu beleben, greifbar hinzustellen und sie in der überaus schwierig zu erfassenden Spielart ihrer Denkweise festzuhalten, war schlechthin meisterhaft und wird ihm z. Z. kaum von einem europäischen Gelehrten nachgemacht werden (Warburg an die Brüder Paul und Felix Warburg vom 11. Mai 1929 in von Stockhausen 1992, 174).

Warburg wollte seine Bibliothek zu einem Zentrum der Erforschung der Renaissance machen. Das bedeutete für ihn, dass jeder Benutzer der Bibliothek sich in derselben Spannung wiederfinden sollte wie der Renaissancemensch: zwischen rationalem Wissen, das er sich aus den ihn umgebenden Büchern erschließen konnte, unter einem Ober­licht arbeitend, das an den Sternenglauben erinnerte, um die die acht damals bekannten Planeten in Gestalt der hel­len Deckenlampen gleichsam zu kreisen scheinen. So ge­mahnt der Lesesaal bis heute an diese Spannung, deren Visualisierung und Dokumentation Warburg sein gesam­tes wissenschaftliches Leben gewidmet hat.

Die elliptische Gestaltung des Lesesaals, worauf War­burg vehement bestanden hatte, ist aber mehr als nur eine Erinnerung an Kepler (so interpretieren es Bredekamp, Wedepohl 2015). Wenn es auch für Warburg unbestritten war, dass mit Keplers Entdeckung der elliptischen Umlaufbahn des Planeten Mars die europäische Moderne beginnt (das belegt der Aufbau der Ausstellung für das Planetari­ um in Hamburg, deren Bild­ und Texttafeln in Fleckner et al. 1993), widerspräche es jedoch seinem Mnemosyne-Atlas, dass er dem Glauben an einen stetigen Fortschritt angehangen haben sollte. Vielmehr drückt die Form des Lesesaals – in einer komprimierten geometrischen Figur – seine jahrelangen Arbeiten über die kulturelle Entwick­lung in Europa aus: Hatte er in der Dissertation hinter dem Bild der antiken Gottheit heidnische Einflüsse ange­deutet gefunden, erkannte er in den Fresken in Ferrara, dass die orientalische Tradition produktiv weitergelebt hatte. Im Luther-­Aufsatz konnte er die Simultaneität von Magie und rationalem Denken zeigen, die gleichermaßen und gleich wirksam die Kultur prägte. In dem Schlangen­vortrag schließlich war er zu der Überzeugung gekommen, dass es bestimmte Bildmotive gibt, die als Umschlagsmo­mente fungieren, d. h. sich von einer magischen Bedeutung in eine rational­säkulare wandeln können. Mit dem Atlas wollte er mit einer weiteren Stufe demonstrieren, dass diese bildlichen Umschlagsmomente sich in beide Richtungen (Magie in Ratio und umgekehrt) in der Kulturgeschichte transformieren können. Dieser Prozess, der sich immer wie­der in der Kulturgeschichte abspielt, ließ sich mit der geo­metrischen Figur der Ellipse am treffendsten ausdrücken, und diese Spannung sollte jeder Bibliotheksbenutzer nachempfinden können. Mit dem Oberlicht und den Deckenlampen erinnerte er auch an die Arbeiten seiner beiden Freunde Boll und Cassirer für seine Kulturwissenschaft; denn mit der Gestalt der Rosette [29] mit zweimal zwölf Blütenblättern spielte Warburg auf die zwölf Monate und die zwölf astrologischen Tierkreiszeichen an, womit er sich im Schifanoja-­Aufsatz beschäftigt hatte, und mit den Deckenlampen, die die Planetenbahnen nachzeichneten, schlug er den Bogen zu Kepler.

Wie nah Boll und Warburg einander waren, zeigt sich noch in einem weiteren architektonischen Moment: der Aufteilung des Raumes der KBW Angefangen vom Eingangsbereich mit dem Balken über der inneren Tür, der die Inschrift Mnemosyne trägt, über den Vorraum mit der großen Garderobe und schließlich hin zum durch eine große Tür abgetrennten Lesesaal, in dem sich im hinteren Teil noch einmal, von einem Vorhang getrennt, ein kleiner Raum befand, an dem meistens Gertrud Bing saß und die Buchbestellungen bearbeitete (Mündliche Auskunft von Karen Michels am 11. Januar 2020), erinnerte die KBW an die Raumaufteilung des Jerusalemer Tempels. Nach 1. Kön. 6 und 7 bestand der Tempel aus drei nacheinander angeordneten Räumen: einer Vorhalle םָלוּא (Welt), einem Hauptraum לָכיֵה (Palast, Tempel) und schließlich dem Al­lerheiligsten ריִבְּד (Wort), in dem die Lade mit den Ge­setzestafeln aufbewahrt wurde. Zwischen der Vorhalle und dem Hauptraum gab es – wie bei Warburg – Türen. Das Allerheiligste selbst war durch eine hölzerne Zwi­schenwand abgeteilt, während der nachexilische Tempel keine Lade mehr im Allerheiligsten hatte, das nun nur durch einen Vorhang abgetrennt war.

Auf den ersten Blick scheint es merkwürdig, dass War­burg, der seit seiner Studentenzeit kein religiöses Leben mehr geführt hatte (Aby Warburg an Charlotte Warburg, 26. Januar 1887, in GS Briefe, 45) und auch spätere Anfragen der jüdi­schen Gemeinde Hamburgs, ob man in seinen Räumen tagen dürfe, immer abschlägig beantwortet hatte, nun ausgerechnet an den Tempel Salomons erinnern sollte. Doch muss auch diese Anspielung tiefer gesehen werden. Denn wäre es Warburg um eine mehr oder weniger subtile Anspielung allein auf den Jerusalemer Tempel gegangen, hätte er רוכס (Erinnere dich!) – das jüdische Gebot zur Erinnerung und zur Wahrung der Gesetze – einmeißeln lassen können. Er wählte aber das griechische Wort für Erinne­rung: “Mnemosyne”. Und das führt wieder zu Boll und dem Synkretismus von Orient und Hellenismus. 1919 hatte Boll vor der Heidelberger Akademie der Wissen­schaften eine Rede zu deren zehnjährigem Bestehen ge­halten, die den Titel Vita contemplativa trug. In dieser Rede sprach Boll über die Rolle des denkenden und for­schenden Menschen im antiken Griechenland und erin­nerte dabei an die Bedeutung der Akademie Platons und ihre Erneuerung neun Jahrhunderte später im Florenz der Medici. Abgesehen davon, dass Boll am Schluss der Rede sehr deutliche Worte über die desolate gegenwärtige Lage der Wissenschaften fand, wenn er etwa sagte: “Das höh­nische Wort Mephistos ‘Verachte nur Vernunft und Wissenschaft’ wird heute von vielen nur allzu wörtlich befolgt”, sprach er ausführlich über die Etymologie des Wortes “contemplativa”. Boll erinnerte daran, dass das Verb comtemplo aus dem römischen Sakralrecht stamme:

Templum (gleichen Stammes wie das griechische τέμνειν schneiden und τέμενος Abschnitt) hieß früher der abge­grenzte viereckige Bezirk, auf dem der römische Augur beim Erkunden des Götterwillens stehen mußte; und zu­gleich das Himmelsgewölbe, an dem er mit seinem Krummstab die Regionen abgrenzte und die Götterzei­chen, Donner und Blitz vor allem, beobachtete. So ist das Wort contemplari, das demnach ursprünglich bedeutet, “den heiligen Bezirk auf der Erde und am Himmel mit dem Blick umfassen”, besonders geeignet, im übertrage­nen Sinne zunächst die forschende Betrachtung des Stern­himmels zu bezeichnen.

Und griechische Wissenschaft und orientalischen Glauben zu vermitteln. Boll spielt damit auf die Traditionslinie an, die die orientalischen Ein­flüsse in der Philosophie Platons betont [30]. 

Wenn Warburg in seinem Brief an Cassirer wenige Wo­chen vor dessen erstem Besuch in Kreuzlingen an eben jenen Boll­-Vortrag erinnerte, ist dem Bedeutung beizu­messen:

Habe soeben Ihr εἶδος und εἴδωλον gelesen und danke Ihnen dafür, dass wir diese prachtvolle Studie in der Bibliothek Warburg veröffentlichen dürfen. Der an sich so schwer begreifliche Abriß über Kunst bei Platon wird in Ihrer Beleuchtung natürlich. […] Einem Wettstreit zwischen Contemplatio (Siehe Boll, Vita Contemplativa) Ver­-Tempelung oder Bezirkung, die nach der Fiktion der linearen Grenze im Kosmos sucht, tritt in Zusammenstoß mit dem εἴδωλον das sich von seiner zufälligen Leiblich­keit so unendlich schwer zum Ideal losringt, ist ja auch das eigentliche Untersuchungsthema meiner Arbeiten, vom Frühling des Botticelli angefangen (Aby Warburg an Ernst Cassirer am 29. February 1914, in Krois 2009, 64).

Warburg sprach hier von einer ganz besonderen Form des Schauens (in der Kunst), die er bei Platon wirken sah, und verband es über den Text Bolls mit seiner eigenen Auffassung einer neuen Wissenschaft der Kultur.

In der Raumaufteilung des Untergeschosses der KBW hatte Warburg somit gewissermaßen die Vorträge beider Freunde verknüpft und das Programm der KBW visuell zum Ausdruck gebracht: Die KBW sollte ein Ort sein, der wie Platons Akademie der “stille[n] Arbeit des Den­kens und Forschens[dient], […] und [in] d[er die] Vita contemplativa, einen festen Zufluchtsort […] [gewinnt] und durch alle Stürme […][behält]” (Boll 1920, 3). Das Programm der KBW sollte es sein, wie die römischen Auguren den Blick auf Erde und Himmel zu richten, und schließlich sollte ihre ‘Methode’ die des Platonischen Schauens sein: “Es handelt sich bei diesem ‘Schauen’ immer um ein akti­ves Leben, das mit Energie gefüllt ist” (Boll 1920, 6).

Diese Spannung zwischen äußeren Eindrücken und in­nerem Erleben, zwischen Christentum und paganer Über­lieferung wurde für den Menschen der Renaissance das Thema in der Kunst. Petrarca hat es in seinem Brief an Francesco Dionigi über die Besteigung des Mont Ventoux im April 1336 zum Ausdruck gebracht: Auf dem Gipfel des Berges schlägt er in Augustinus’ Confessiones eine Stelle aus dem 10. Buch auf, die den Leser auffordert, den Blick von den Äußerlichkeiten, die ihn umgeben, in sein Inneres, seine Seele, zu versenken: “Und da gehen die Menschen hin und bestaunen die Gipfel der Berge, die ungeheuren Fluten des Meeres, die breiten Wasserfälle der Flüsse, die Größe des Ozeans und die Bahnen der Gestir­ne, aber sie vergessen dabei sich selbst” (Augustinus, Bekenntnisse, 10. Buch, in Flasch 1989, 261). Mit der Vita contemplativa des Renaissancemenschen begann eine neue Wahrnehmungsweise der Welt. Der Humanist Pe­trarca war nach dem Lesen der Augustinus-­Stelle wie “betäubt” (Francesco Petrarca, Die Besteigung des Mont Ventoux, in Stern 1996, 30) und überzeugt, das “Gelesene sei nur für [ihn] und für niemanden anderen gesagt” (Francesco Petrarca, Die Besteigung des Mont Ventoux, in Stern 1996, 30) worden. Er verknüpfte in seinem Brief an den Augustinerpater Dio­nigi die Lektüre des Kirchenvaters sowohl mit den Wor­ten des Apostels Paulus als auch mit Livius. Petrarcas Selbsterkennungsszene auf dem Gipfel des Mont Ventoux vereinte Christliches und Heidnisches, überlieferte Tradi­tion und eigenes Fühlen und Denken, so dass sich sein Blick änderte. Petrarcas Dichtung suchte fortan den Ort der Wahrheit weniger in der Natur als vielmehr in sich selbst und bereitete damit in der Dichtung den Weg in die Moderne vor.

Die Korrespondenz zwischen Warburg und Boll doku­mentiert, wie sehr sich beide Gelehrte um die Offenlegung dieses Spannungsverhältnisses in ihren Fächern bemüh­ten, das sie für grundlegend für die europäische Kultur hielten. Sie leisteten insofern auch einen Beitrag, den ori­entalischen Platon wiederzuentdecken. Warburg und Boll hatten erkannt, dass die antike Astrologie, wie Garin es formuliert hat, sich am “Schnittpunkt verschiedener, bis­weilen durchaus widersprüchlicher Ideen situierte” (Garin [1976] 1997, 12). 

Dieses Phänomen (die Bedeutung des astrologischen Wis­sens), das sich zwar an einem einzelnen Kunstwerk auf­zeigen ließ, führte aufgrund seiner “Doppeldeutigkeit und Komplexität […], wollte man zu einer richtigen Einschät­zung der Vergangenheit gelangen” (Garin [1976] 1997, 12), notwendigerweise in die Kulturwissenschaft. Diesen Weg hat Warburg dann auch folgerichtig vollzogen, weil der Forschungsgegenstand selbst ihn ihm vorgab. Denn es sind “nicht nur die Anfangsphasen [der Astrologie, D.G.] in den Blick zu nehmen, in denen die Astrologie aufblühte und Bedeu­tung erlangte, sondern ebenso die Epochen, in denen astrologisches Denken in Frage gestellt wurde oder in eine Krise geriet (Garin [1976] 1997, 12). Warburg hatte betont, dass “Athen immer wieder aus Alexandria zurückerobert” (GS, 534) sein wolle, doch Garin gibt zu bedenken, dass es “schwer festzustellen ist, wo Athen beginnt und Alexandria endet” (Garin [1976] 1997, 14).

Der Briefwechsel schließt somit eine wichtige Lücke in der bisherigen Warburg­Forschung und kann helfen, auch manches Rätsel um den Bilderatlas Mnemosyne zu klären. Die Briefe sind schließlich auch die Vorgeschichte zu Warburgs letztem Werk: den Ausstellungen über Sternglauben und Sterndeutung. Über die Ausstellung im Deutschen Museum hatte Warburg 1927 in sein Tagebuch notiert: “Heute Vormittag war ich im Deutschen Muse­um. […] Wer war der Berater? Franz Boll. (Also darf ich auch hier sein Werk aufnehmen)” (Tagebuch, 47). 

Schließlich bereitete Warburg die Ausstellung im Pla­netarium in Hamburg vor, die er als Dauerausstellung geplant und dem Planetarium geschenkt hat. Bevor er sie jedoch fertigstellen konnte, starb er am 26. Oktober 1929. Seine Mitarbeiter, Gertrud Bing und Fritz Saxl, setzten sich weiter für dieses Projekt ein, das 1930 doch der Öf­fentlichkeit gezeigt werden konnte. So ist diese Ausstel­lung nicht nur die Summe seiner lebenslangen Beschäfti­gung mit der Dokumentation der geistigen Orientierung des Menschen im Raum – sie ist gleichsam auch eine Be­bilderung seiner Freundschaft mit Boll.

Notizien

1. Warburg an Bolls Schwager Gustav Herbig vom 15. Novem­ber 1924, in WIA, GC/14730. Stimilli und Wedepohl deuten die Briefstelle, die im Kontext der Auseinandersetzung mit Herbig um den Aufkauf der Boll’schen Bibliothek entstan­den war, die Warburg unbedingt erwerben wollte, dahin­gehend, dass Warburg sich mit Menelaos vergleiche, der um den Leichnam des toten Patroklos kämpfe (Siehe Einleitung zu Aby M. Warburg, Per Monstra ad Sphaeram, Stimilli, Wedepohl 2007, 23). Warburg macht in dem Brief deutlich, dass er zwar bereit sei, auf die gesamte Boll­ Bibliothek zu verzichten und statt­dessen von der badischen Regierung die Bücher kaufen wolle, die in Heidelberg Dubletten seien. Er betont jedoch zugleich unmissverständlich, dass er gedenke, “den Mikrokosmos Franz Bolls” zusammenzuhalten. Vor diesem Hintergrund fragt er Herbig, was wichtiger sei: “die Rüstung des gefallenen Kriegers als ‘fossile Mirabilia’ mit ähnlichen Rüstungen ein­zuschließen oder sie dort aufzubewahren, wo ‘Mitkämpfer des Verstorbenen sie nutzen können?’”.

2. Über die Bedeutung ἄστρα als “Sternenkonstellation” im Unterschied zu αστέρες als einzelnes Gestirn siehe Boll 1917-1918.

3. “Wie wenn klagt ein Vater, des Sohns Gebein verbrennend, der, ein Bräutigam, starb zum Weh der jammernden Eltern: also klagte der Held, das Gebein des Freundes verbrennend, und umschlich das Totengerüst mit unendlichen Seufzern. Jetzt wann der Morgenstern das Licht ankündend hervor­geht, Eos im Safrangewand dann über das Meer sich ver­breitet: jetzt sank in Staub das Gerüst, und es ruhte die Flamme” (Homer, Ilias, 23, 222-­228, übersetzt von Voß 2002, 397).

4. “Hesperos, der am schönsten erscheint vor den Sternen des Himmels, so von der Schärfe des Speers auch strahlet es, welchen Achilles schwenkt in der rechten Hand, wutvoll dem göttlichen Hektor” (Homer, Ilias, 22, 318-­320, in Voß 2002, 385).

5. Im Nachlass Bolls liegt in seinem Buchexemplar zwischen den Seiten 470 und 471 Warburgs erster Brief an ihn (Nr. 1). Bei Boll, heißt es: “Es ist ein Ikosaeder aus Bergkrystall, der 16 Flächen mit Tierkreis­bildern und 4 leere enthält. [...] Es ist [...] ein schützendes Amulett”.

6. In Vom Arsenal zum Laboratorium heißt es: “Wenn ich auf den inneren Sinn meiner geistigen Betätigung zurückblicke, so erscheint es mir schon seit längerer Zeit etwa so, dass ich gezwungen war, zu dieser These Lessings [Warburg meint Lessings Laokoon, D.G.] eine Korrektur anzubringen. [...] Diese Korrektur an Lessing oder richtiger an Winckel­manns Doktrin von der olympischen Stille der Antike ent­wickelte sich nun im Laufe der folgenden Jahrzehnte auf kulturwissenschaftlicher Grundlage immer weiter und ist heute noch nicht abgeschlossen” (WEB, 684f. Im Tagebuch der KBW wird deutlich, dass der Mnemosyne-Atlas diese Korrektur sein sollte (WEB, 263).

7. Dort heißt es: “Wer die berühmten Fresken des Cosimo Tura und seiner Genossen im Palazzo Schifanoja in Ferrara betrachtet, der wird mit Erstaunen erkennen müssen, dass der berühmte Maler, wie zuerst Warburg gesehen hat, sich hier ganz in der Rolle eines getreuen Illustrators dieser uns so fremd gewordenen, für die Renaissance noch so unmittel­bar lebenskräftigen Texte gefällt” (Boll [1913] 1918, 60).

8. Rudolf Hoecker merkte dazu an: “Franz Boll veröffentlichte [...] den Vortrag seines in den gleichen geistigen Bahnen forschenden und fortschreitenden Freundes Aby Warburg” (Hoecker 1921, 1).

9. Die erste Anregung, sich mit Ptolemäus zu beschäftigen, hatte Boll als Student in einem Poseidonios­ Seminar in München bei Wilhelm von Christ – einem Schüler August Boeckhs – erhalten. Boll widmete seine Arbeit schließlich auch von Christ (Rehm 1927, 14). Boll hat sich mit dem dänischen Altphilologen und Mathematiker Johan Ludvig Heiberg ausführlich über Pto­lemäus ausgetauscht, der Claudii Ptolemaei Opera quae exstant omnia, Leipzig 1898­-1919 herausgegeben hat (Sie­he Nachlass Franz Boll, Heid. Hs. 2108.86).

10. In Bolls Handexemplar in der Heidelberger Bibliothek sind 25 Rezensionen eingelegt, nicht nur in deutscher, sondern auch eine in englischer, vier in italienischer und sieben in französischer Sprache.

11. Droysen verfasste zwischen 1833 und 1843 eine Geschichte über Griechenland, die er 1877-1878 für eine Gesamtausgabe unter dem Titel Geschichte des Hellenismus herausbrachte.

12. Fritz Saxl an Warburg vom 13 November 1922 [WIA GC/13935]. Allerdings ist dieses Urteil mit Vorsicht zu lesen. Saxl hatte 1912 in Wien bei Max Dvořák promoviert, und Strzygow­ski war Mitglied des Promotionsausschusses gewesen: “Saxl machte ihn dafür verantwortlich, dass er nicht mit sub auspiciis imperatoris promoviert worden war, weil angeblich Strzygowski ihm die Höchstnote als einziger verweigert habe” (McEwan 2012, 22). 

13. In der Bing­-Ausgabe Warburgs findet sich der Hinweis, dass die Arbeit an der Fakultät Straßburg am 8. Dezember 1891 eingereicht worden sei und die Promotion am 5. März 1892 stattgefunden habe. Vgl. GS, 307.

14. Das ist die Überschrift, unter der Bing die erste Texteinteilung versammelt. Sie umfasst die Dissertation und Aufsätze wie Francescos Sassettis letztwillige Verfügung, Matteo de Strozzi oder Der Eintritt des antikisierenden Idealstils in die Malerei der Frührenaissance u. a.

15. “If the pagan trappings with which he transformed the church of St. Francis can be seen more as the expression of an aesthetic than a religious sensibility, the citizens of Rimini have been right to call it the Tempio Malatestiano – it is a temple to the cult of Sigismondo, whose foremost practi­tioner was the man himselfIf the pagan trappings with which he transformed the church of St. Francis can be seen more as the expression of an aesthetic than a religious sensibility, the citizens of Rimini have been right to call it the Tempio Malatestiano – it is a temple to the cult of Sigis­mondo, whose foremost practitioner was the man himself” (Bicheno 2007, 172).

16. Apuleius setzt Isis in Der goldene Esel mit Venus gleich und beschreibt die Haltung, die Botticelli gemalt hat: “Wie Venus, die des Meeres Fluten entsteigt und lügenhaft­-züchtig ihren marmornen Schoß mit rosiger Rechter beschattet, nicht deckt” (Apuleius von Madaura, Der goldene Esel, übersetzt in Rode 1956, 46).

17. Dass dies zeitgleich in der Oper und im Tanz zu beobach­ten war, analysierte Warburg 1895 in Die Theaterkostüme für die Intermedien von 1589 und stellte fest, dass in den Intermedien immer dann der Tanz – d. h. Bewegung und Gesten – eingesetzt wurde, um die Emotionen zu zeigen, während die Arien der Oper die eigentliche Geschichte er­zählten.

18. Boll und Thomas Mann hatten 1919 einige Briefe gewech­selt. Boll hatte Mann nach der Lektüre der Betrachtungen eines Unpolitischen geschrieben und ihm hinsichtlich Os­wald Spenglers widersprochen: “Der Spenglersche Fatalis­mus mag kühl anmuten, aber er ist im Grunde eine Maske, die Maske eines pessimistischen Konservativen, der spricht: “Man kann nur noch die Vollendung der Civilisation” wol­len, oder man kann gar nichts mehr wollen” (Boll, 2 November 1919, Thomas Mann Archiv Zürich, Sig. B­I­BOLF­1).

19. Weder Boll noch Warburg waren – wie ihre Briefe zeigen – von der allgemeinen Kriegseuphorie, die so Viele erfasst hatte, auch nur annähernd angesteckt. Dass diese Kriegs­propaganda mit dem Friedensschluss von Versailles nicht vorbei war und z. T. auch das Verhältnis von Wissenschaft­lern sehr belasten konnte, zeigt die Korrespondenz Bolls mit Johan Ludvig Heiberg. Boll war seit 1894 in brief­lichem Austausch mit Heiberg. Am 25. Februar 1920 warf der Boll u. a. in einem achtseitigen Brief vor: “Dass der Friede so hart würde, ist begreiflich […], eben weil niemand an eine Aenderung deutscher Gesinnung recht glauben kann. […] Mein Eindruck, dass für Deutschland alles erlaubt galt, ist fest begründet auf die Thatsache der verbrecherischen Be­theiligung der deutschen Botschaften in Norwegen, Nord-­ und Südamerika bei der Einschmuggelung vergifteter Bon­bons u. dgl., Anweisungen auf Handelsschiffe, die gesenkt werden sollten, und solchen groben Kränkungen des Völ­kerrechts. […] Die tiefer liegende Ursache des selbstmör­derischen Kriegs ist doch unzweifelhaft der Expansions­ drang Deutschlands. […] Ich meine, dass die geringeren Eigenschaften der Deutschen seit 1870 die Oberhand be­kommen haben (Preussenthum)” (Nachlass Franz Boll, Heid. Hs. 2108.86). Boll war sehr betroffen und antwortete in einem öffentlichen Brief: Deutschland schuldig? Offener Brief an einen neutralen Gelehrten, Heidelberg 1920: “Noch einmal: Der Krieg war, zunächst subjektiv genommen alles andere als ein Angriffskrieg in der Empfindung des deut­schen Volkes. Er war und ist für uns die Abwehr der uns drohenden Zertretung durch die feindlichen Heere von Osten nach Westen. Glauben Sie wirklich, wir könnten uns einreden lassen, der Panslawismus und die russische Groß­fürstenpartei, die nie verstummende Revanchepredigt, der Triumph der feindlichen Presse über die zunehmende Ein­kreisung vor dem Kriege ließe sich als bloße Vorsicht gegen unsere Angriffslust erklären? […] Ich leugne nicht, dass in diesem Krieg Mittel angewendet wurden, die früher für barbarisch gegolten hätten. […] Die Freunde des Friedens und der Völkerversöhnung müssen heute zu anderen Türen gehen, wenn sie den neu aufloderndern Hass beklagen”. Ebd. Heiberg erwiderte düpiert: “Ihren Zeitungsartikel habe ich richtig erhalten. Dass Sie dabei meines Incognitos gewahrt hätten, dürfte sich als Illusion herausstellen. […] Es ist nun immer eine heikle Sache Privatbriefe öffentlich zu benutzen” (Nachlass Franz Boll, Heid. Hs. 2108.86). Doch gelang es beiden – der Differenzen zum Trotz – ihre Wertschätzung füreinander zu bewahren und die Korrespon­denz bis zu Bolls Tod fortzusetzen. Heibergs letzte Karte an Boll vom 14. April 1924 endet mit der Versicherung und Freude, dass sie einander im Juli wiedersehen würden (Nachlass Franz Boll, Heid. Hs. 2108.86).

20. Reitzenstein berichtet, dass Boll sich sehr um seine Studenten gekümmert habe, sie oft auch seine Mittagsgäste gewesen seien und wie erschütternd es für ihn war, dass keiner von ihnen aus dem Krieg zurückkehrte (Reitzenstein 1924-1925, 48 und Boll 1919, 13). Boll nennt in dieser Rede jeden einzelnen Studenten mit Namen und umreißt mit wenigen Sätzen, an welcher Stelle des Studiums oder der Promotion sie bei Kriegsausbruch gestanden und woran sie gearbeitet haben.

21. Bolls Tod verhinderte, dass Max Adolph bei ihm promovie­ren konnte. Er ging schließlich nach Berlin, wo ihn Werner Jaeger als Doktorand annahm. Max Adolph promovierte 1929 über Platon: Zwei Fragen zum Kratylos, und widmete die Arbeit seinem Vater. Der hat den glücklichen Studienab­schluss seines Sohnes noch erlebt. Doch auch inhaltlich zeigt die Dissertation eine bemerkenswerte Nähe zu Warburgs und Bolls Arbeiten: Im zweiten Teil der Arbeit beschäftigt sich Max Adolph ausführlich mit der Etymologie des griechischen Wortes “Meteorologie” und diskutiert ganz im Sinne seines Mentors Boll die Bedeutung der Astrono­mie in der Akademie Platons. Es ist da­her auch kein Zufall, dass Max Adolph 1930 ein Gemälde für Warburgs Ausstellung für das Planetarium in Hamburg schuf, das über dem Eingang der Ausstellung über Sternglaube und Sternkunde hing und sie einleitete. Mit der Doktorarbeit und dem Bild verknüpfte daher auch Max Adolph die Arbeiten Franz Bolls mit den Forschungen sei­nes Vaters (genauer dazu: Gelhard, Max Adolph Warburg’s Doctoral Thesis and the Warburg Circle, in dieser Ausgabe von Engramma)

22. Warburg spielt mit “Sternenfreund” hier keineswegs auf den durch Nietzsche populär gewordenen Begriff der “Sternenfreundschaft” an, womit der sein zwiespältiges Verhältnis zu Wagner in dem 279. Aphorismus in Die fröhliche Wissenschaft beschrieben und eher seine Entfrem­dung von Wagner ausgedrückt hatte: “Sternen-Freundschaft. – Wir waren Freunde und sind uns fremd geworden” (Nietzsche [1882] 1980, 163).

23. “Mitten in dem Lichte vom Himmel her seine Enden an diesen Bändern ausgespannt; denn dieses Licht sei das Band des Himmels, welches wie die Streben an den großen Schiffen den ganzen Umfang zusammenhält. An diesen Enden aber sei die Spindel der Notwendigkeit befestigt, vermittels deren alle Sphären in Umschwung gesetzt wer­den, und an dieser sei die Stange und der Haken von Stahl, die Wulst aber gemischt aus diesem und anderen Arten. […] Denn acht Wülste seien es insgesamt, welche ineinander liegend ihre Ränder von oben her als Kreise zeigen, um die Stange her aber nur eine zusammenhängende Oberfläche einer Wulst bilden; diese aber sei durch die achte mitten durchgetrieben. […] Indem nun die Spindel gedreht wer­de, so kreise sie zwar ganz immer in demselben Schwun­ge, in dem ganzen Umschwingenden aber bewegten sich die sieben inneren Kreise langsam in einem dem Ganzen entgegengesetzten Schwung” (Platon, Politeia, X, 616c ff, übersetzung in Schleiermacher 1990, 859ff.).

24. Aby Warburg an Frede, 29. Februar 1924. Warburg meinte Platons Darstellung der Sphärenharmonie in Politeia X, 616c. Er bat Frede mit der ganzen Familie seine Rekon­struktion des florentinischen Hochzeitstanzes – das ist der Aufsatz zu den Theaterintermedien – zu lesen, in dem es um die Harmonie der Sphären gehe, und erklärte, dass die “Menschen gerade durch den Tanz Mathematik und Platon zusammenbringen” [WIA GC/33939].

25. Cantor, der in Heidelberg nur 20 Minuten Fußweg von Boll entfernt wohnte, hatte am 8. Januar 1913 mit ihm über die beiden Mathematiker Paul Tannery und Hiero­nymus Zeuthen korrespondiert. Vor allem Tannery hat intensiv über die antike griechische Mathematik und Ge­schichte der antiken Astronomie gearbeitet und 1899 Bolls Bekanntschaft in München gesucht (siehe Heiberg an Boll, 17.3.1899, Nachlass Franz Boll, Heid. Hs. 2108.86). Zeuthen, der im Gegensatz zu Cantor, der sich streng an die überlieferten Texte hielt, auch gewissen Spekulationen nicht abgeneigt war, versuchte in Die Lehre von den Kegelschnitten im Altertum, Kopenhagen 1886, nachzuweisen, dass schon Apollonius von Perge analytische Geometrie (also Koordinatensysteme) angewandt hatte. Zusammen mit Tannery stand Zeuthen für die lange dominierende Interpretation der griechischen Mathematik als geome­trischer Algebra. Auf beide geht Cantor auch in seinen Vorlesungen über Geschichte der Mathematik ausführlich ein, wenn er ihren Beweisen auch nicht unbedingt folgte, wie er Boll gegenüber gesteht (siehe Nachlass Franz Boll, Heid. Hs. 2108,136).

26. Cantor weist außerdem darauf hin, dass nicht Apollonius der eigentliche Entdecker der Kegelschnitte gewesen sei, sondern einer der Gefährten Platons, Menächmus (siehe Cantor [1880] 1907, 231 f.). Apol­lonius aber habe die Kegelschnitte untersucht, d. h. ihn interessierte, welche geometrischen Figuren (Hyperbel, Ellipse, Kreis, Parabel) entstehen, wenn man einen Kreis­ kegel unter unterschiedlichen Neigungswinkeln durch­schneidet: Cantor [1880] 1907, 232 ff.

27. Wie wichtig Platon für die Entwicklung der Mathematik war, lässt sich auch bei Moritz Cantor nachvollziehen: Er widmet ihm nicht nur ein eigenes Kapitel, in dem er aus­führlich auf Menon und Politeia eingeht, sondern er zeigt vor allem auch, dass die eigentliche Philosophie der Ma­thematik in der Platonischen Akademie entstanden ist (Cantor [1892] 1900, 219ff.).

28. Die Ausstellung für das Planetarium in Hamburg endet daher nicht zufällig mit Tafeln zu Kepler. Auf der sie kommentierenden Texttafel heißt es: “Kepler hat als ers­ter erkannt, dass die Planeten sich nicht, wie die Griechen, Araber und das europäische Mittelalter angenommen hat ten, in Kreisbahnen bewegen, sondern in Ellipsen. Durch diese Entdeckung war der Weg zu einer rechnerischen Sternkunde gebahnt” (A. Warburg, Bildersammlung zur Geschichte von Sternglaube und Sternkunde im Hamburger Planetarium, in Fleckner et al. 1993, 309).

29. Die Rosette, eine stilisierte Rosenblüte, ist aus den Isis­weihen bekannt: Die Oberpriester schreiten in einer Op­ferfeier und verzehren einige Rosen, die sie in der rechten Hand tragen: “Die Rose aber ist gerade durch die auf den Aion hinweisende Fünfzahl ihrer Blätter das Sinnbild ewigen Lebens und der Auferstehung geworden und hat als solches auch im christlichen Glauben ihre bekannte Rolle gespielt” (Junker 1921-1922, 153). Botticelli zeigte die Anbetung des Kindes vor einem blühenden Rosen­strauch. Rosen umwehen auch die Geburt der Venus und begleiten den Frühling. Die Rose als Zeichen der Erneuerung wurde daher auch das Symbol für die evangelisch-­lutherische Kirche. Auch Warburg hatte dem Luther­-Aufsatz eine Abbildung Luthers mit Rose beigefügt und sie der anderen bekannten “Dar­stellung Luther sitzt der Teufel auf der Schulter” gegen­übergestellt (Junker 1921-1922, 153).

30. Die Auffassung, dass Platon möglicherweise Ägypten be­reist und von dort Kenntnisse über den Orient erworben habe, die deutliche Spuren in seinen Dialogen hinterlassen haben sollen, ist bis ins 19. Jahrhundert immer wieder untersucht worden (siehe ausführlich dazu Jeck 2004). Dass die Re­zeption Platons möglicherweise ähnlich zu lesen ist wie Warburg es hinsichtlich der Rezeption der Antike in den Kunstwerken der Frührenaissance herausgearbeitet hat, analysiert Jeck: “Im achtzehnten Jahrhundert stellten bedeutende Orientalisten durch die Entdeckung und Kommentierung bis dahin unbekannter originärer Texte zur Mythologie und Philosophie des Ostens die Bewer­tung der qualitativen Möglichkeiten des orientalisierenden Platonismus erstmals auf eine gesicherte wissenschaft­liche Grundlage, indem sie durch quellenkritische Über­legungen zu einer modifizierten Einschätzung der Bedeu­tung signifikanter Dokumente jener Bewegung gelangten. Parallel zu dieser Entwicklung sowie aus neuer Perspektive fanden die angeblichen Beziehungen Platons zum Orient die Beachtung und Würdigung exzellenter Kritiker, die als Philosophiehistoriker zu dieser Zeit arbeiteten. Andere damalige Bemühungen vergleichbarer Art zielten vor allem auf die Konstruktion einer von allen Orientalismen be­freiten und rein okzidental orientierten Platonexegese. Dieser Reinigungsprozeß setzte schon in der Frühen Neu­zeit ein, wobei er sich zuerst als Widerstand gegen die Überschätzung der Dignität orientalischer Weisheit im Platonismus manifestierte” (Jeck 2004, 445). Die Mitschriften Ernst Hoffmanns über die Platonvorlesungen, die Boll in Heidelberg im Sommersemester 1921 gehalten hat, lassen die Vermutung zu, dass sich Boll mit dieser “doppelten” Lektüre Platons beschäftigt hat (siehe Nachlass Ernst Hoffmann, Heid. Hs. 3547).

Bibliographie
Quellen
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  • GS Tagebuch
    A. Warburg, Tagebuch der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg, hrsg. von K. Michels und C. Schoell-Glass, Berlin 2001.
  • GS Briefe
    A. Warburg, Briefe, hrsg. von M. Diers, S. Haug mit T. Helbig, Berlin 2021.
  • WEB
    A. Warburg, Werke in einem Band. Auf der Grundlage der Manuskripte und Handexemplare, hrsg. und kommentiert von M. Treml, S. Weigel und P. Ladwig, Berlin 2010.
Bibliographische Referenzen
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    D. McEwan, Fritz Saxl. Eine Biographie. Aby Warburgs Bibliothekar Und Erster Direktor Des Londoner Warburg Institutes, Wien 2012.
  • Michels 2007
    K. Michels, Aby Warburg. Im Bannkreis der Ideen, München 2007.
  • Nietzsche [1882] 1980
    F. Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, in Werke in sechs Bänden, Bd. 3, München 1980, 8­-274.
  • Rehm 1927
    A. Rehm, Franz Boll, “Biographi­sches Jahrbuch für Altertumskunde” 47 (1927), 13-­43.
  • Reitzenstein 1924-1925
    R. Reitzenstein, Franz Boll, “Nachrichten von der Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen. Geschäftliche Mitteilungen aus dem Berichtsjahr 1924-1925”, Göttingen 1925, 44-52.
  • Rode 1956
    A. Rode (hrsg. von), Apuleius von Madaura, Der goldene Esel, Rudolstadt 1956.
  • Saxl 1927
    F. Saxl, Verzeichnis astrologischer und mythologischer illustrierter Handschriften des lateinischen Mittelalters, 2: Die Handschriften der National­Bibliothek, in “Sitzungs­ berichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften” 2 (1925-1926), Heidelberg 1927.
  • Schäfer 2003
    H.-M.Schäfer, Die Kulturwissenschaftliche Bibliothek Warburg. Geschichte und Persönlichkeiten der Bibliothek Warburg mit Berücksichtigung der Bibliothekslandschaft und der Stadtsituation der Freien und Hansestadt Hamburg zu Beginn des 20. Jahrhunderts, Berlin 2003.
  • Schleiermacher 1990
    F. Schleiermacher (hrsg. von), Platon, Politeia, Darmstadt 1990.
  • Stern 1996
    P (hrsg. von), Francesco Petrarca, Die Besteigung des Mont Ventoux, Frankfurt a.M., 1996.
  • Stimilli, Wedepohl 2007
    D. Stimilli, C. Wedepohl (hrsg. von), A. Warburg, Per monstra ad Sphaeram, Vortrag in Gedenken an Franz Boll und andere Schriften 1923 bis 1925, München/Hamburg 2007.
  • von Stockhausen
    T. von Stockhausen, Die Kulturwissenschaftliche Bibliothek Warburg, Architektur, Einrichtung und Organisation, Hamburg 1992.
  • Straiger 1974
    E. Straiger (hrsg. von), Angelo Poliziano, Der Triumph Cupidos. Stanze, Zürich/München 1974.
  • Strzygowski 1902
    J. Strzygowski, Hellas in des Orients Umarmung, “Beilage zur Allgemeinen Zeitung” 40 (1902), 313-317.
  • Voß 2002
    J.H. Voß (hrsg. von), Homer, Ilias, München 2002.
  • Walter 2003
    I. Walter, Der Prächtige. Lorenzo de’ Medici und seine Zeit, München 2003.
  • Warburg [1923] 1988
    A. Warburg, Schlangenritual: ein Reisebericht, hrsg. von U. Raulff, Berlin 1988.
English abstract

We present Sternenfreundschaft. Die Korrespondenza Aby Warburg und Franz Boll, published by Wallstein. This volume, edited by Dorothee Gelhard, brings together the correspondence of two great scholars: Franz Boll and Aby Warburg by tracing the convergences and influences in each other's intellectual work. We publish here Gelhard’s Afterword to the book. 

keywords | Franz Boll; Aby Warburg; Ernst Cassirer; KBW; Per monstra ad sphaeram.

doi: https://doi.org/10.25432/1826-901X/2024.211.0017