Das Warburg Institute (1946)
Fritz Saxl
Fritz Saxl, Das Warburg Institute, “Neue Auslese”, 6 (1946), 124-126. Si ringrazia Giacomo Calandra di Roccolino per la segnalazione.
Wohl sind Gelehrte wie Petrarca oder Erasmus viel und gern gereist, aber im Leben wissenschaftlicher Institute sind Reiseabenteuer eine Seltenheit. Institute sind von Natur aus unbeweglich, durch massive Gebäude oder gewichtige Einrichtung an einen festen Ort gebunden und bedürfen zu ihrer gedeihlichen Entwicklung einer ungestörten, friedlichen Umgebung. Die Überführung des Warburg-Instituts von Hamburg nach London, die im Hitlerjahr 1933 stattfand, war deshalb ein einigermaßen ungewöhnliches Ereignis. Eines Tages legte am Ufer der Themse ein Schiff mit sechshundert Kisten an: Bücher, eiserne Regale, Schreibtische, Buchbindereimaschinen, photographische Apparate, u.s.w.
Um die Bibliothek unterzubringen, brauchte man zehntausend Quadratfuß Raum. Lord Lee of Fareham, der dem Unternehmen von Anfang an ein lebhaftes Interesse entgegenbrachte, hatte in einems riesigen Bürohaus in Millbank eine Unterbringungsmöglichkeit gefunden Mr. Courtauld und die Familie Warburg Amerika sorgten grosszügig für die Deckung der laufenden Unkosten, und Reihe englischer Gelehrter hiess die Ausgewanderten herzlich willkommen. Aber wo sollten die sechs Leute, die mit den Büchern aus Hamburg herübergekommen waren, die Arbeit anpacken?
Zu unserer Erleichterung stellten wir fest, dass niemand schnelle Resultate von uns erwartete. Man liess uns unsere eigenen Wege gehen; nach und nach fanden wir Freunde, die wir mit unseren Problemen vertraut machten; und die Frage war nur mehr, wie die entwurzelte Pflanze in dem neuen Boden gedeihen würde.
Die Geschichte des Warburg-Instituts war von Anfang an ein wenig abenteuerlich. Sein Begründer, Aby Warburg, im Jahre 1866 geboren, war der älteste Sohn einer Bankiersfamilie auf eine hundertjährige Tradition zurückblickte. Er weigerte sich, in die Firma einzutreten, nachdem er mit achtzehn Jahren beschlossen hatte, das kontemplative Dasein eines Gelehrten zu führen und sich dem Studium der Kunstgeschichte und Archäologie zu widmen.
Er studierte in Bonn und Straßburg. Vielleicht waren es unter andern auch die Ideen der englischen Präraphaeliten, die ihn anregten, die florentinische Renaissance, im Besonderen unter dem Gesichtspunkt der heidnischen Antike, zu untersuchen. Im Jahre 1895 ging er in die Vereinigten Staaten, sah mit eigenen Augen das Leben der Indianer von Neu-Mexiko und verglich das, was er dort an heidnischer Wirklichkeit erlebte, mit dem, was sich aus seinen Studien über das Heidnische in der Kunst ergeben hatte. Das Nachleben der Antike in der europäischen Kultur, in Kunst, Religion und Literatur beschäftigte Warburg sein ganzes Leben lang. Seine Forschungen führten ihn zu den fundamentalen Problemen unserer Geschichte. Warum hatten gewisse Ideen, Ausdrucksformen und Gebärden die Fähigkeit wiedergeboren zu werden, während andere untergingen? Gab es ein Kollektivgedächtnis, in dem sie überlebten? Und was für neue Bedeutungen konnten die wiederbelebten Symbole annehmen? War es möglich, die Bahnen aufzufinden und zu verfolgen, durch die antike Ideen von Alexandrien nach dem Osten und vom Osten zurück nach dem Westen und Nordeuropa gewanden waren?
Das Problem war ausserordentlich vielseitig: ein neuer Apparat, unorthodox in seiner Weite und Tiefe, musste für diese neue Art der Forschung geschaffen werden. Im Jahre 1902, im Alter von 36 Jahren, entschloss sich Warburg eine Bibliothek zur Geschichte der europäischen Kultur aufzubauen. Heute stellt diese Bibliothek mit ihren 90.000 Bänden eine kleine Enzyklopädie der Geisteswissenschaften dar. Alle steht in Beziehung zur antiken Tradition, and für besonders wichtige Probleme gibt es spezialisierte Abteilungen wie: “Die Ursprünge der christlichen Theologie”, “Kunst und Aberglauben in der Renaissance”, “Die Geschichte der Stad Florenz”, “Wiedergeburt der Wissenschaften”, “Klassizismus im achtzehnter Jahrhundert”.
Die Bibliothek wird durch eine photographische Sammlung ergänzt, die nach Auswahl und Anordnung ähnliche Prinzipien verfolgt. Nach und mach nahm die Bibliothek die Gestalt eines Forschungsinstituts an, und als Warburg im Jahre 1929 starb, lagen bereits eine Reihe von Studien und Vorträgen der Bibliothek Warburg vor. Seine Brüder unterstützen das Institut weiter, and die Arbeit wurde ohne Unterbrechung bis zum Jahre 1933 fortgeführt.
Nach der Auswanderung nach London stellte sich allmählich die Berührung mit den geistigen Strömungen Englands her. Es gab und gibt glücklicherweise in diesem Lande ein wachsendes Interesse für die sichtbaren Dokumente der Vergangenheit.
Das Warburg-Institut wurde von dieser Welle getragen, und seine Methoden fanden bei einigen Historikern Anklang. Ein paar jüngere englische Forscher und einige deutsche Emigranten gesellten sich dem Kreise, der Mitarbeiter zu. Eine enge Verbindung wurde mit dem “Courtauld Institute of Art” geschaffen, und auf dem Gebiet der klassischen Tradition wurde durch die Herausgabe der mittelalterlichen Übersetzungen und Kommentare der platonischen Schriften sowohl mit Oxford wie mit der “Britischen Akademie” Kontakt hergestellt. Während des Krieges wurden in ganz England photographische Wanderausstellungen gezeigt, die Sonderthemen wie “Englische Kunst und das Mittelmeer” behandelten. Dieses neue Unternehmen machte das Institut in weiteren Kreisen bekannt. Zwei Zeitschriften und eine Reihe von Büchern wurden herausgegeben. Durch all diese Tätigkeiten empfing das Institut einen Zustrom englischer Ideen und gewann neue Freunde.
Im Jahre 1936 hatte sich die Londoner Universität bereit erklärt, das Institut bis zum Jahre 1943 in ihren Räumen zu beherbergen. Im selben Jahr liefen auch alle finanziellen Sicherungen ab. Was danach geschehen würde, blieb lange Zeit hoffnungsvoll unentschieden, aber es ergab sich, dass Warburgs Ideen Wurzeln gefasst hatten; die Zukunft des Instituts war gesichert. Die Familie Warburg übergab es als Schenkung der Universität London, die sich verpflichtete, in Zukunft für den Unterhalt des
Instituts aufzukommen
So wurde ein von einem deutschen Gelehrten geschaffenes Institut von seinen Stiftern, in der Mehrzahl amerikanischen Bürgern, einer britischen Universität übergeben, mit dem Wunsch, dass es den Wissenschaftlern dieses Landes dienen und sich dem internationalen Kreise der gelehrten Gesellschaften als ein würdiges Mitglied einreihen sollte. Vielleicht kann es auf seine bescheidene Weise dazu beitragen, dem Humanismus in der Welt wieder seine Geltung zu verschaffen.
English abstract
In this short contribution, published in 1946 for the magazine “Neue Auslese”, Fritz Saxl writes a concise introduction to the Warburg Institute. Saxl emphasises how the construction of the Library was generated around the scientific imprint left by its founder, Aby Warburg, which can be summarised as the investigation of the survival of certain forms of expression in the history of culture.
keywords | Fritz Saxl; Aby Warburg; Warburg Library; Warburg Institute.
Per citare questo articolo / To cite this article: F. Saxl, Das Warburg Institute (1946), “La Rivista di Engramma” n. 198, gennaio 2023, pp. 141-144 | PDF of the article