Der Grundriss von Castel del Monte und der Silberne Schnitt*
Karl Kiem
English abstract | Versione italiana
Der Grundriss von Castel del Monte und der Silberne Schnitt
Das in Apulien gelegene Castel del Monte (wohl um/nach 1240; vgl. Meckseper 1970, 211; Ambruoso 2018, 40 ff.) gilt nicht nur als Höhepunkt der vielen unter dem Bauherrn Kaiser Friedrich II. von Hohenstaufen in Auftrag gegebenen Bauten in Süditalien und eine der schönsten Burgen des Mittelalters, sondern darüber hinaus mit dem Status eines Weltkulturerbes der UNESCO als Architektur von weltweiter Bedeutung (Licino 2001, 12, 75; Ching, Jarzombek, Prakash 2011, 424). Diese Zuschreibungen leiten sich vor allem aus dem einzigartigen Grundriss des Gebäudes ab, der dreifach von der Form des regelmäßigen Achtecks bestimmt ist: dem zentralen Innenhof, dem Hauptbaukörper und den an dessen Ecken angeordneten Türmen.
Für die Forschung stellt dieses Gebäude eine große Herausforderung dar, denn zu seiner Geschichte liegen bis auf eine einzige Ausnahme keine schriftlichen Quellen aus der Bauzeit vor. Aber selbst die Interpretation dieser einzigen, in mittelalterlichem Latein verfassten Schriftquelle von 1239-1240 ist umstritten (vgl. Leistikow 1993; Licino 2001, 25; Maselli 2015, 128 ff.; Ambruoso 2018, 22 f.). Entsprechendes gilt für die vielen anderen Rätsel, die das Gebäude aufwirft. So ist vor allem auch die zentrale baugeschichtliche Frage bisher noch nicht plausibel beantwortet worden: Wie ist der das Gebäude in hohem Maße bestimmende Grundriss entworfen worden?
Bisher vorliegende Versuche zur Deutung der Genese des Grundrisses
Ein früher Anlauf, die Genese der Grundrissfigur von Castel del Monte zu deuten, stammt von Antonio Thiery (1980). Dieser entwickelte das Achteck des Innenhofs und des Hauptbaukörpers aus je einem Quadrat mit Umkreis, einer Streckenhalbierenden und einer Diagonalen (Abb. 2a). Er behauptete darüber hinaus, die Einteilung von Castel del Monte sei entsprechend der nach Leonardo von Pisa, genannt Fibonacci (um 1170 - nach 1240; vgl. Gericke 1990, 97), bezeichneten Zahlenreihe bzw. mit im Goldenen Schnitt eingeteilten Strecken konzipiert worden und die Grundrissfigur stelle die Quadratur des Kreises dar (Thiery 1980, 284 f., 292; Musca 1981, 36). Die Streckenverhältnisse an dem Gebäude und die Theorie der Mathematik geben diese Aussagen aber nicht her.
Aldo Tavolaro geht dagegen bei seiner vermuteten Entwurfsfigur von zwei sich rechtwinklig kreuzenden Rechtecken aus (Tavolaro 1994, 29; Ambruoso 2018, 123 ff., 139 ff.) Diese bestimmen die Innenseiten des Hauptbaukörpers (Abb. 2b). Eine entsprechende Genese kann jedoch mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden. Bei einem Schnurgerüst wird das Gebäude nämlich in der Regel von der Außenseite her angelegt, damit die Maurer von der Innenseite aus arbeiten können, wo sie nur ein kleines, auf Böcken stehendes Gerüst brauchen, mit dem entsprechend dem Baufortschritt von Stockwerk zu Stockwerk nach oben weitergezogen werden kann. Architekten planten ihre Gebäude, zumindest in vorindustrieller Zeit, dementsprechend von der Außenkante her. Wie Antonio Thiery behauptet im Übrigen auch Aldo Tavolaro fälschlicherweise, die Strecken des Grundrisses stünden im Verhältnis des Goldenen Schnittes bzw. der sogenannten Fibonacci-Zahlenfolge (Tavolaro 1994, 29).
Bei dem Versuch von Heinz Götze spielen bei der Rekonstruktion der Genese des Grundrisses dagegen die Mittelpunkte der Türme eine bestimmende Rolle (Götze 1991, 84 ff.). Sie werden durch zwei um 45° gedrehte Quadrate, deren Diagonalen und zusätzlich einem Kreis erzeugt (Abb. 2c). Die Lage der Außenmauer ist von zwei kleineren um 45° gedrehten Quadraten bestimmt. Ferner ergibt sich das Hofoktogon aus je zwei parallel zur Außenmauer verbundenen Turmmittelpunkten. Bei diesem Vorschlag bleibt vor allem die Frage nach der Antragung eines solchermaßen generierten Grundrisses auf der Baustelle offen. Die von Heinz Götze im Zusammenhang mit der oben genannten Schriftquelle ins Spiel gebrachte Aufschüttung einer ebenen Fläche auf der zu bebauenden Hügelkuppe zur Antragung des Grundrisses entbehrt zudem jeglicher Plausibilität. Denn bei der Anlage der Fundamente wäre die Grundrisszeichnung sofort wieder verloren gegangen und hätte danach zur Errichtung der Mauern nicht mehr zur Verfügung gestanden (vgl. Götze 1991, 33, 149; Schirmer 2000, 84; Knaak 2001, 125).
In seiner ausgiebigen Beschäftigung mit dem Castel del Monte hat sich Heinz Götze auch sogenannter interdisziplinärer Zuarbeit durch die Mathematik bedient. Dieses Fach hat dem studierten Kunsthistoriker und Archäologen sowie praktizierenden Großverleger sogar eine Festschrift besorgt. In dieser ging Max Koecher mit der rechnerischen Methode an den Grundriss von Castel del Monte heran. Er setzte die Türme in Bezug zum Innenhof und Hauptbaukörper. Dabei stellte er jeweils ein Verhältnis der Strecken von 1+√2 fest (Koecher 1991, 227). Dieses Ergebnis führte aber nicht weiter, da Max Koecher es nicht bis zur Rekonstruktion des Entwurfsvorgangs verfolgte (was auch nicht sein Metier war), Autoren anderer Provenienz offensichtlich die weitgehend in sich geschlossene Sprache der Mathematik nicht verstanden und das Resultat als Selbstverständlichkeit abtaten. In einem Achteck stünden die Seiten zum umgebenden Quadrat nun einmal in diesem Verhältnis (Götze 1991, 10 (b); Schirmer 2000, 84 f.). Ein weiterer Vorschlag von Seiten der Mathematik kam von Michael Erné (in Götze 1991, 159). Dieser schlug für das Castel del Monte als Entwurfsgrundlage völlig abwegig ein kompliziertes Rastersystem vor (Abb. 2d).
Die Versuche von Alexander Knaak (2001, 125 ff.) und Rudolf Moosbrugger-Leu (2000, 17 ff.) dürfen als Varianten des beschriebenen Vorschlags von Heinz Götze verstanden werden, bei denen die beiden um 45° gedrehten Quadrate allerdings die Außenseiten der Türme bestimmen (Abb. 2e, f). An der die Gestalt des Gebäudes wesentlich bestimmenden Rolle der Mittelpunkte der Türme kann jedoch wie unten ausgeführt kein Zweifel bestehen. Um die Bandbreite der Versuche aufzuzeigen, darf hier auch noch der in jüngster Zeit erschienene Vorschlag von Gaetano Mongelli genannt werden. Dieser geht von der entwurfsbestimmenden Figur der ‘Vesica Piscis’ aus. Und dies nicht nur beim Castel del Monte, sondern auch gleich noch unter anderem bei altägyptischen Tempeln, dem Jerusalemer Felsendom und der Kathedrale von Chartres (Mongelli 2019, 37 f.).
Mit seiner Beschäftigung mit den Entwurfsmethoden mittelalterlicher Baumeister geht Dankwart Leistikow über die bisher angeführten Versuche hinaus (Leistikow 1993, 28 ff.). Er beschreibt ein Quadrat um das Achteck des inneren Hofes, wobei die Verlängerungen des Quadrats wie bei Heinz Götze in die Turmmitten führen (Abb. 2g). Ferner schlägt er Kreise mit dem Radius der halben Diagonalen um jede Ecke des genannten Quadrats, wobei die Schnittpunkte der Kreise mit dem Quadrat das innere Oktogon ergeben und die Schnittpunkte mit vom Mittelpunkt ausgehenden Strahlen im Abstand von 45° die Mittelpunkte der Türme ergeben. Dieser Versuch hat durchaus eine gewisse Plausibilität. Allerdings lässt das ausgesprochen zielgerichtete Vorgehen in der Rekonstruktion von Dankwart Leistikow die Frage nach dem grundlegenden Entwurfsgedanken aufkommen. Die Klärung der Antragung eines solchermaßen generierten Grundrisses auf der Baustelle bleibt ebenfalls offen.
Zur Genauigkeit des ausgeführten Grundrisses
Die bisher vorliegenden, auf zeichnerischen Methoden basierenden Versuche zur Rekonstruktion der Genese des Grundrisses von Castel del Monte müssten bei der entsprechenden zeichnerischen Gewinnung der Maße im Maßstab 1 zu 1 auf der Baustelle im Rahmen der Ausführung des Gebäudes systemisch zu deutlich ablesbaren Ungenauigkeiten geführt haben. Diese sind bei der Festlegung von Punkten mit schleifenden Schnitten, gedrehten Quadraten, mithilfe sich verziehender Schnüre konstruierten Kreisbögen und entsprechend angetragenen Längen nämlich nicht zu vermeiden. Zur Klärung der Genauigkeit der Ausführung von Castel del Monte ist hier die von Wulf Schirmer im Jahr 2000 publizierte präzise Bauaufnahme der Architekturfakultät der Universität Karlsruhe von grundlegendem Belang. Diese Arbeit zeigt, dass die Regelmäßigkeit des idealen Grundrisses nur an einigen wenigen Stellen gestört ist (Schirmer 2000; vgl. Rossi, Constantino 2015, leider ohne Maßangaben).
Eine Abweichung von der Regel lässt sich eindeutig auf die offensichtlich nachträglich beschlossene Verbreiterung des Abstandes der beiden seitlich des Haupttores gelegenen Türme um 20 cm zurückführen, wobei gleichzeitig auch noch die dazwischenliegende Außenwand etwas nach innen versetzt wurde (Schirmer 2000, 19). Die Ursache für diese bauliche Maßnahme darf aller Wahrscheinlichkeit nach im Zusammenhang mit der Torumrahmung gesehen werden, die entweder etwas zu groß gefertigt wurde – möglicherweise, weil sie in einer anderen Maßeinheit als das Gebäude ausgeführt wurde – oder in der ursprünglichen Planung kein Platz für den seitlichen Anschlag einer Zugbrücke vorgesehen war. In jedem Fall sind die genannten Abweichungen vom Ideal so vorgenommen worden, dass sie mit bloßem Auge nicht offensichtlich sind. An einem dem ausgeführten Bauwerk zugrunde liegenden idealen Plan kann kein Zweifel bestehen (Meckseper 1970, 227).
Abgesehen von diesen wenigen Unregelmäßigkeiten fällt auf, dass das Gebäude in Anbetracht seiner geometrisch anspruchsvollen Figur mit einer für die Zeit außergewöhnlich hohen Präzision ausgeführt wurde. So reichen die Strecken vom Mittelpunkt des Gebäudes zum Mittelpunkt der Türme im ungestörten Bereich von 23,80 bis zu 23,82 m, abgesehen von zwei Ausnahmen von 23,78 und 23,85 m. Die Breite der Türme reicht von 7,79 bis 7,80 m und der Abstand zwischen den Türmen beträgt 10,35 m, bis auf eine Ausnahme von 10,38 m. Ferner weisen alle acht Seiten der jeweiligen Figur in sich die gleiche Länge auf: 18,15 m bei dem Oktogon um die Mittelpunkte der Türme, 7,40 m bei den ungestörten Seiten des Hofoktogons und 3,23 m bei den Türmen.
Angesichts dieser hohen Präzision in der Ausführung des Grundrisses des Castel del Monte sind sämtliche bisher vorgelegten Versuche zur Deutung seiner Genese als nicht plausibel zu betrachten (vgl. ferner Goebel 1987). Dies gilt auf jeden Fall für das Konzept zur Antragung der Maße auf der Baustelle. Davon ist auch der Vorschlag von Wulf Schirmer betroffen, der von einer Übertragung der Maße mittels Winkelmessung und Fluchtstangen ausgeht. Ein solches Vorgehen hätte systemisch ebenfalls zu deutlichen Maßabweichungen geführt (Abb. 2h) (vgl. Schirmer 2000, 84, 90 f.).
Zur Mathematik am Hof von Kaiser Friedrich II.
Die Spur zu den Grundlagen des komplex entworfenen und außergewöhnlich präzise ausgeführten Grundrisses von Castel del Monte führt zum Hof des Bauherrn Kaiser Friedrich II. Er selbst wird beschrieben als Regent mit großem Interesse an den Wissenschaften und gebildet in der Mathematik. Es wird berichtet, dass er den bedeutendsten Mathematiker seiner Zeit, Leonardo von Pisa, genannt Fibonacci, im Jahr 1226 zusammen mit seinem Hofmathematiker persönlich traf und deren Unterhaltung über ungelöste Fragen der Mathematik folgen konnte. Man stand bei Hofe mit Fibonacci in regelmäßiger Verbindung. Dort besaß man auch dessen Bücher, in denen das globale mathematische Wissen jener Zeit aus griechischen, byzantinischen, arabischen und, in letzteren eingeschlossen, indischen Quellen dargestellt war. Unter diesen Werken war das ‘Liber quadratorum’ dem Kaiser selbst gewidmet. Ferner hielten sich mit Michael Scotus, seinem Nachfolger Theodor von Antiochia und andere mathematikaffine Gelehrte am Hof des Kaisers auf, darunter auch Johannes von Palermo, der genannte Hofmathematiker (Stürner 2000, 385 ff.; Wußing 2009, 313 ff.; Barrow-Green, Gray, Wilson 2019, 265 ff.; Rader 2019, 282). Es darf also davon ausgegangen werden, dass man in diesem Kreis im abendländischen Vergleich auf einem außergewöhnlich hohen Stand der Mathematik war. Man konnte Wurzeln ziehen, man kannte Zahlenreihen und man wusste, dass die Seite eines Achtecks zu der Seite des ihn umgebenden Quadrats im Verhältnis 1 zu 1+√2 steht (Sigler 2002, 265, 489; Hughes 2008, 35, 256). Das heißt, man konnte geometrische Probleme mit rechnerischen Methoden lösen (Barrow-Green, Gray, Wilson 2019, 267).
Der beschriebene hohe Stellenwert der Mathematik am Hof von Friedrich II. lässt es wenig plausibel erscheinen, dass der Grundriss von Castel del Monte wie bisher allgemein vorgeschlagen mit den Mitteln der Grundschulgeometrie erstellt und auf die gleiche Weise auf der Baustelle umgesetzt worden sein soll. Vielmehr darf der Grundriss auf eine Genese mittels eines mathematisch anspruchsvollen Systems untersucht werden (vgl. Kiem 2018). Dies gilt vor allem hinsichtlich der Frage, in welchem Verhältnis die drei Achtecke Turm, Innenhof und Hauptbaukörper zueinander stehen. Für eine entsprechende Untersuchung stellen wir versuchsweise einen der Türme in die Mitte des Innenhofes. Dann lässt sich feststellen, dass alle drei Achtecke nicht nur wie von Max Koecher festgestellt im Verhältnis 1+√2 zueinander stehen, sondern dass das Umquadrat des kleineren Achtecks mit der Verlängerung seiner Seiten jeweils die Ecken des nächstgrößeren Achtecks bestimmt.
Die zeichnerische Konstruktion zur Erzielung der entsprechenden drei Achtecke geht von einem Quadrat aus, um dessen vier Ecken jeweils ein Kreisbogen mit dem Radius der Seitenlänge des Quadrats geschlagen wird, wobei der Schnittpunkt zwischen der Diagonale des Quadrats und dem Kreisbogen jeweils sowohl die Abmessung des nächstkleineren Quadrats als auch die acht Ecken innerhalb des größeren Quadrats bestimmt. Dieses Verfahren lässt sich bis zur Unendlichkeit fortsetzen. Der Grundriss von Castel del Monte besteht jedenfalls nicht aus Achtecken willkürlicher Größe, sondern aus einem System von drei unmittelbar aufeinander bezogenen Achtecken.
Bei der entsprechenden Figur stehen alle Strecken der drei Achtecke nicht nur in sich, sondern auch untereinander im Verhältnis 1 zu 1+√2 beziehungsweise 1 zu 2,414... und damit im Verhältnis des Silbernen Schnitts. Die allgemeine Empfindung des Castel del Monte als besonders harmonisch angelegtes Gebäude darf auf die vollkommene Einteilung des Grundrisses im Silbernen Schnitt zurückgeführt werden.
Das beschriebene Entwurfskonzept führt zu einer ganzen Reihe von Kongruenzen innerhalb der Geometrie des Grundrisses. Eine von ihnen ist bereits bei den Versuchen von Heinz Götze und Dankwart Leistikow deutlich geworden. So treffen sich die Verlängerungen der Seiten der beiden Umquadrate des Achtecks des Innenhofes in den Mittelpunkten der Türme. An der Rolle der die äußere Peripherie des Gebäudes bestimmenden Mittelpunkte der Türme kann also kein Zweifel bestehen. Alle Versuche, die von einer anderen Bestimmung des Hauptbaukörpers ausgehen, wie z. B. von den Außenseiten der Türme oder den Innenseiten der Außenmauer in den Vorschlägen von Antonio Thiery (Abb. 2a), Aldo Tavolaro (Abb. 2b), Alexander Knaak (Abb. 2e) und Rudolf Moosbrugger-Leu (Abb. 2f), dürfen deshalb von vornherein als nicht plausibel betrachtet werden.
Die sich aus dem beschriebenen Entwurfsprinzip ergebenden Kongruenzen betreffen in der Grundrisszeichnung auch die Türme. Die Diagonale des Quadrats in der Ecke zwischen dem Umquadrat des kleinen Achtecks zu dem Umquadrat des mittleren Achtecks hat nämlich die Breite der Türme. Auf Grund dieser Tatsache können diese zeichnerisch jeweils diagonal nach außen an alle acht Ecken des großen Umquadrats verschoben werden. Anschließend ist es möglich, anhand der Verwendung der beiden inneren Seiten des Achtecks der Türme, den Durchmesser, die Lage und den Verlauf der Außenwand des Hauptbaukörpers zu bestimmen. Alle Formen des idealen Entwurfs des Grundrisses von Castel del Monte sind also auf komplexe Weise mehrfach aufeinander bezogen.
Mit der beschriebenen Anordnung der Türme ist letztlich der gesamte Entwurfsprozess für den Grundriss von Castel del Monte von den ersten konzeptionellen Überlegungen bis hin zum realisierbaren Entwurf rekonstruiert. Das gilt im Prinzip auch für das achteckige marmorne Wasserbecken, das wahrscheinlich im Zentrum des Hofes stand (Ambruoso 2001, 101; 2018, 196 ff.; Licino 2001, 12; Fallacara, Occhinegro 2015, 51 ff.; Fallacara, Occhinegro, De Muro Fiocco 2015, 205). Es darf davon ausgegangen werden, dass die Dimensionierung dieses Bauteils ebenfalls im Silbernen Schnitt erfolgte, womit es dieselbe Größe wie die Türme gehabt und so einen Verweis auf die Konzeption des Grundrisses gebildet hätte.
Die Antragung des beschriebenen Entwurfs für den Grundriss auf der Baustelle dürfte ebenfalls mit einer Methode erfolgt sein, die auf dem beschriebenen hohen Wissensstand auf dem Gebiet der Mathematik am Hof Friedrichs II. basiert. Diese Folgerung bedeutet, dass die Längen des Gebäudes für die Umsetzung des Entwurfs auf der Baustelle nicht durch zeichnerische, sondern durch rechnerische Verfahren bestimmt wurden. Bei diesen muss es sich auf Grund der in regelmäßigen Achtecken immanenten Strecken im Verhältnis 1 zu 1+√2 bzw. 1 zu 2,414 um entsprechende Rechenoperationen handeln. Die demgemäße Methode mit sich daraus ergebenden irrationalen Zahlen ist in beiden Büchern von Leonardo da Pisa, genannt Fibonacci, beschrieben: dem zunächst 1202 und 1228 in zweiter Auflage erschienenen, oben genannten ‘Liber Abaci’ und dem 1220 erschienen Buch ‘Practica Geometriae’ (Gericke 1990, 103).
Durch rechnerische Verfahren bekannte rechtwinklig verlaufende Längen von Achtecken konnten auf einem Schnurgerüst einfach angetragen werden. Zur Erstellung einer solchen Vorrichtung war die relativ plane Fläche, die um das Gebäude herum auf der Höhe etwas über den Fundamenten noch heute vorhanden ist, gut geeignet. Diese bietet genau den Platz, den ein quadratisches Schnurgerüst zur Errichtung des Gebäudes benötigt. Das Gerüst musste um etwas über 3 Meter angehoben sein, damit die Schnüre auch bei einem gewissen Durchhang frei über die Hügelkuppe hinweg gespannt werden konnten. Für die Genauigkeit spielte die Spannkraft der Schnüre im Prinzip keine Rolle, denn der Kreuzungspunkt der Schnüre in der Vertikalen verändert sich durch den Durchhang nicht.
Als tragende Konstruktion für ein solches Schnurgerüst kann man sich eine seit alters her übliche und bis um die Mitte des 20. Jahrhunderts angewendete einfache Bauweise mit zweiseitigen Stangen und einer oben angeordneten Lauffläche vorstellen. Von dort aus konnten alle Punkte des Grundrisses mit den von den Berechnungen bekannten Längen mit jeweils parallel zum Grundquadrat verlaufenden, sich rechtwinklig kreuzenden Schnüren in der hohen Präzision festgelegt werden, die das Gebäude zeigt. Die geringfügigen Abweichungen im Verhältnis der Achtecke von Turm, Innenhof und Hauptbaukörper lassen sich mit der Auf- und Abrundung der durch die Berechnung erzielten irrationalen Zahlen und vielleicht auch mit der Rundung von Maßeinheiten erklären.
Die beschriebene Rekonstruktion des Entwurfs des Grundrisses von Castel del Monte und der Antragung des Grundrisses basieren in erster Linie auf der Analyse der Substanz des bestehenden Gebäudes. Das Ergebnis gibt nun Anlass zu einer neuen Bewertung der o.g. einzigen lateinischen Schriftquelle. Denn bei der beschriebenen, um das Gebäude herum angelegten relativ planen Fläche dürfte es sich aller Wahrscheinlichkeit nach um den 'atractus' handeln, den Kaiser Friedrich II. in Auftrag gab (Vgl. Fallacara, Occhinegro 2015, 22 ff.; Ambruoso 2018, 22 f.). Und in diesem Fall darf dann endgültig von 1240 als Jahr des Baubeginns ausgegangen werden.
Eine andere Schlussfolgerung betrifft die Türme. Diese sind im Gegensatz zu der Erscheinung des Gebäudes als wehrhafte Burg auf Grund ihres kleinen Innenraums und der fehlenden Ausstattung mit geeigneten Schießscharten nicht dazu in der Lage, eine für den Bautyp charakteristische Funktion als Wehrtürme erfüllen zu können (vgl. zur Einordnung von Castel del Monte in die Architektur der mittelalterlichen Adelsburg in Europa Meckseper 1970). Wie die Analyse des Entwurfsprozesses eindeutig gezeigt hat, erfolgte die Dimensionierung dieses Bauteils nicht nach funktionalen Kriterien. Vielmehr ergab sich die Bestimmung der Größe der Türme wie oben beschrieben aus einem übergeordneten Gestaltungsprinzip im Rahmen des Silbernen Schnitts. Die proportionale Beziehung der einzelnen Bauteile hatte also Vorrang vor der funktionalen Bestimmung ihrer Größe.
Die Rekonstruktion der Genese des Grundrisses von Castel del Monte zeigt, dass das Gebäude hinsichtlich sowohl seines Entwurfsprinzips als auch der Übertragung des Grundrisses auf der Baustelle im Vergleich zum Bauwesen der Zeit herausragend war (vgl. Meckseper 1970, 214 ff.). Die Einteilung mit den drei im Silbernen Schnitt aufeinander bezogenen Achtecken wurde offensichtlich durch den hohen Stand der Mathematik bei Hofe und insbesondere durch die von Fibonacci zusammengetragenen, aus aller Welt stammenden Erkenntnisse in der Mathematik angeregt (vgl. Stürner 2000, 385 f.). Die besondere Komplexität des Grundrisses vor allem in seiner äußeren Gestalt konnte bei einer hohen Genauigkeit der Ausführung nur mit rechnerischen Mitteln im Zusammenhang mit einem durchdacht angelegten Schnurgerüst erfolgen. Schließlich muss es am Hof des Kaisers einen an Mathematik interessierten und mit den neuesten Erkenntnissen auf diesem Gebiet vertrauten Architekten gegeben haben, der von seinem wissenschaftlichen Umfeld getragen wurde und einen kongenialen Bauherrn hatte.
* Der vorliegende Artikel entstand unter kontinuierlicher Inanspruchnahme der mathematischen Expertise meines Sohnes Aldo Kiem. Besonderer Dank gilt auch Ann-Christin Stolz für die Anfertigung von zwei Zeichnungen. Die zahlreichen wohlwollenden Kommentare und freundlichen Hinweise für eine zukünftige Ausweitung des Themas vor allem im Nachgang zu dem Preprint (http://dx.doi.org/10.25819/ubsi/10224) haben ebenfalls eine große Wertschätzung erfahren, auch wenn sie hier leider nur summarisch angeführt werden können.
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Castel del Monte (around/after 1240), located in Puglia, is a World Heritage Site. The plan of the building consists of three regular octagons: inner courtyard, main structure and towers. The origin of this design remains a mystery to this day. The attempts at explanation presented so far are based on an exclusively simple geometrical method. This ignores the extraordinarily high level of knowledge in mathematics at the court of the client, Emperor Frederick II, at the time of its conception and construction. Thus, closer examination shows that not only are the octagons in themselves in relation to the silver section, but also to each other. Furthermore, the accuracy of the construction shows that it must have been done with the help of a computational method. Against this background, the Castel del Monte may be understood above all as an expression of the high level of mathematics at the court of Emperor Frederick II.
keywords | Holy Roman Emperor Frederick II; Fibonacci (Leonardo of Pisa); Octagon; Castle; Silver Section.
Per citare questo articolo / To cite this article: K.Kiem, Der Grundriss von Castel del Monte und der Silberne Schnitt, ”La rivista di Engramma” n.200, vol.1, marzo 2023, pp. 425-440 | PDF