"La Rivista di Engramma (open access)" ISSN 1826-901X

225 | giugno 2025

97888948401

Antike Kritik an der sokratischen Pädagogik am Beispiel der Epikureer

Vincenzo Damiani

English abstract

§ I. Einführung
§ II. Sokratische Ironie vs. epikureische Parrhesie
§ III. Epikur als sokratischer Weise?
§ IV. Schlußbemerkungen

I. Einführung

Die Kritik der Epikureer an Sokrates kann, wenn wir einmal von ihrem konkreten Inhalt absehen, als hermeneutisches Fallbeispiel dienen. Denn die Fragen, die sich bei der Rekonstruktion und dann bei der Interpretation dieser Kritik stellen, erweisen sich auch in anderen Konstellationen als methodisch relevant: 1) Welche Aspekte von Sokrates’ Leben und Lehre werden angegriffen? 2) Welcher Sokrates unter den durch verschiedene Traditionen überlieferten wird jeweils ins Visier genommen? 3) Was sind die Hintergründe der Kritik, d. h. auf welche (tatsächlichen oder vermeintlichen) Unterschiede bezieht sich die (philosophische) Polemik? Diese Fragen sollen in meinem Beitrag am Beispiel der Sokratesrezeption im Epikureismus angegangen werden. Zu diesem Zweck werde ich die bekannten Quellen, die uns über die epikureische Kritik an Sokrates – und der sokratischen Pädagogik im Besonderen – informieren, erneut in den Blick nehmen, auch unter Berücksichtigung der neuen Beiträge zu den auf Papyrus erhaltenen Texten. Bezüglich der dritten Frage – Hintergründe der Sokrateskritik – werde ich außerdem auf einige Aspekte hinweisen, die bei der Rezeption des sokratischen Erbes in Bezug auf einige der Grundlagen des Epikureismus möglicherweise eher als verbindend denn als trennend empfunden wurden, was wiederum aus der Sicht der Angreifer gerade deshalb zu einem unausgesprochenen Motiv für eine aktive Distanzierung wird.

Epikur und seine Schüler waren bereits in der Antike für ihr vehementes, ja geradezu militantes philosophisches Auftreten gut bekannt. Sie kritisierten Vertreter anderer philosophischer Meinungen bzw. Schulen unerbittlich (vgl. fr. 146 Us., Erbì 2019). Unter anderem erfahren wir aus Plutarchs polemischer Schrift mit dem Titel Beweisführung, daß nach Epikurs Lehren kein angenehmes Leben möglich ist (Ὅτι οὐδὲ ζῆν ἔστιν ἡδέως κατ’ Ἐπίκουρον), daß Epikur und sein enger Schüler Metrodor in ihrer philosophischen Polemik bereits in der Wortwahl alles andere als sanft waren. Dieser Polemik sei auch Sokrates zum Opfer gefallen (allgemein zur Kritik an Sokrates im Epikureismus siehe Angeli, Acosta Méndez 1992, 29–138; Erler 1994, 129–130; Ranocchia 2007, 116–132. 338–352; Campos Daroca 2019; Regali 2020). Im Vergleich sei die Haltung eines anderen Epikureers der ersten Generation, Kolotes, deutlich milder gewesen (Plut. Non posse 2 1086e = fr. 501 Giannantoni; vgl. Cic. Nat. deor. 1,33,93). Kolotes’ Angriff gegen Sokrates ist, wie wir noch sehen werden, zumindest in Umrissen rekonstruierbar und damit eine zentrale Quelle für die epikureische Sokratesrezeption. Epikur und Metrodor, so Plutarch, seien in ihrer Kritik regelrecht auf Beleidigungen aus gewesen (Plutarch listet hier all die Formulierungen auf, deren sie sich offenbar gegenüber anderen Philosophen bedient hatten). Kein berühmter Philosoph soll verschont geblieben sein (τίνος γὰρ οὐχὶ τῶν ἐπιφανῶν – vgl. Crönert 1906, 18–19). Man kann sich fragen, wie es dazu kam. Liegt hinter jeder scharfen Kritik stets eine ebenso scharfsinnige Bemühung, die Argumente des Gegners zu verstehen? Oder birgt diese kämpferische Haltung vielmehr das Bewußtsein einer Gefahr, nämlich die der Konkurrenz, die von philosophischen Entwürfen herrühren könnte, die von ähnlichen Prämissen ausgehen bzw. zu ähnlichen Ergebnissen kommen? Und außerdem: Was genau wird kritisiert? Die grundsätzliche Herausforderung für die Sokratesforschung kommt hier als weitere interpretatorische Schwierigkeit noch hinzu: Wenn einerseits unbestritten ist, daß Epikur und die Epikureer Sokrates mitunter auch scharf kritisierten, so ist nicht immer deutlich ersichtlich, gegen welchen Sokrates sie sich tatsächlich wandten. Beginnen möchte ich mit einem Aspekt, der uns direkt ins Herz der sokratischen Pädagogik führt: Die epikureische Kritik an der Ironie des Sokrates.

II. Sokratische Ironie vs. epikureische Parrhesie

Ein zentrales Mittel der epikureischen παιδεία ist die sogenannte παρρησία, das „freie Reden“, die Offenlegung der eigenen Meinung. Parrhesie ist im Epikureismus wesentlicher Bestandteil sowohl der Lehrer-Schüler-Beziehung als auch der Beziehung der Schüler untereinander (dazu De Sanctis 2013). Sie ermöglicht die Berichtigung bestimmter Denk- bzw. Verhaltensmuster durch offene und ehrliche Kritik, und damit einen stetigen Fortschritt in Richtung Tugend. Gegenseitiges Vertrauen und Aufrichtigkeit sind also die Grundlage, auf der die παρρησία als pädagogisches Mittel ruht. Fällt dieses Vertrauensverhältnis weg, so ist die gesamte Dynamik von Erziehung und Wissensvermittlung gefährdet. Obwohl gerade die Parrhesie, die ehrliche Äußerung der eigenen Gedanken, für den platonischen Sokrates ein wichtiges Instrument der philosophischen Kommunikation, ja eine unentbehrliche Voraussetzung für die ἐξέτασις darstellt – jene Prüfung, die Sokrates ständig an sich selbst und seinen Gesprächspartnern vornimmt – scheint sie in der epikureischen Kritik an Sokrates zunächst keine Rolle zu spielen; im Gegenteil, selbst wenn sie anerkannt wird, wie es beispielsweise Philodem tut, wird sie negativ gedeutet. Versteht man also Parrhesie als aufrichtige Offenlegung der eigenen Meinung und Ironie als deren bewußten Verschleierung, so ist es nicht verwunderlich, daß sich die Kritik Epikurs und seiner Anhänger gerade auf diesen Aspekt von Sokrates’ Charakter richtete, der auf einen vermeintlichen Mangel an Ehrlichkeit, wenn nicht gar auf eine unverantwortliche Verachtung der Wahrheit hinweisen konnte (vgl. Acosta Méndez, Angeli 1992, 40–46; Erler 2009, 61; Erler 2001, 219).[1] Besonders deutlich wird dies in der Schrift des Epikureers Polystratos Über die unvernünftige Verachtung der Volksmeinung (Περὶ ἀλόγου καταφρονήσεως), auch wenn Sokrates nicht ausdrücklich erwähnt wird (Polystr. col. 16,23–17,7 Indelli; siehe dazu Acosta Méndez, Angeli 1992, 97–98):

φ[οβεῖσ]θαι ποιοῦσιν, τ[ῆς] | δ’ [ἀλη]θ̣είας καὶ τῆς πρὸ[ς] | τὰ αὑτῶν πάθ̣η̣ συμφω|νίας μὴ φρον[τ]ίζοντες | παρὰ τὸ δοκοῦν αὑτοῖς | ἕνεκα τῶν πλησίον εἰ|ρωνεύονται, ἀλλὰ παρ|[ρησίαι ἀ]κολούθ[ω]‹ι› τε κ̣[ἀλη]|θεῖ φιλοσοφία‹ι› χρωμέ̣[νο]υς | περὶ ἑκάστων λαλεῖν, ἀνυ|[πέρβλη]τ[ον] ‹τὸ› τῆς̣ ἀληθινῆ[ς] | φιλο[σο]φία[ς] ἔργον εὐθὺ[ς] | [συ]ν̣τε[λο]ῦ̣[ν]τας [καὶ] συν[ε]ι|δ̣ότας α[ὑ]τοῖς.

(Diejenigen, die sich der Erforschung der Natur widmen, sollen ihr Vertrauen nicht in jene Philosophen setzen), die uns Angst einjagen und ohne Rücksicht auf die Wahrheit und ohne Übereinstimmung mit ihren eigenen Affekten Ironie entgegen ihrer eigenen Meinung einsetzen (παρὰ τὸ δοκοῦν αὑτοῖς … εἰρωνεύονται), um den Anwesenden zu gefallen; sondern es ist notwendig, daß sie in einzelnen Fragen mit Hilfe der Parrhesie (παρ[ρησίαι) und einer kohärenten und wahren Philosophie sprechen und die Aufgabe der wahrhaften Philosophie vollkommen und bewußt erfüllen.[2]

Aus eben diesem Grund soll Epikur Sokrates „zurechtgewiesen haben“, wie es Cicero in seinem Brutus dem Atticus in den Mund legt (Cic. Brutus 85,292 = fr. 231 Us.):

Tum ille: ego, inquit, ironiam illam quam in Socrate dicunt fuisse (…) facetam et elegantem puto. est enim et minime inepti hominis et eiusdem etiam faceti, cum de sapientia disceptetur, hanc sibi ipsum detrahere, eis tribuere inludentem, qui eam sibi adrogant. ut apud Platonem Socrates in caelum effert laudibus Protagoram Hippiam Prodicum Gorgiam ceteros, se autem omnium rerum inscium fingit et rudem. decet hoc nescio quo modo illum, nec Epicuro, qui id reprehendit, adsentior.


Ich für meinen Teil halte die berühmte Ironie, die, wie man sagt, dem Charakter des Sokrates innewohnt, für geistreich und subtil […]. In der Tat gehört es sich für einen intelligenten und zugleich geistreichen Menschen, in einer Diskussion über Weisheit, diese Weisheit von sich zu weisen und sie ironisch denen zuzuschreiben, die sich ihres Besitzes rühmen. So wie bei Platon, wo Sokrates Protagoras, Hippias, Prodikos, Gorgias und all die anderen lobt und sich selbst als völlig ungebildet und ohne jedes Wissen darstellt. Eine solche Eigenschaft paßt, ich weiß nicht warum, zu ihm, und ich stimme nicht mit Epikur überein, der ihn dafür tadelt.

Sokrates’ Ironie beschreibt Atticus als faceta et elegans, „geistreich und subtil“, und führt als Beispiel – in Anlehnung an Platons Dialoge – an, daß Sokrates Sophisten wie Protagoras und Gorgias lobt und dabei seine eigene Unwissenheit vorspielt (se autem omnium rerum inscium fingit et rudem – zu Sokrates’ Ironie vgl. zumindest Vlastos 1991). Epikurs Urteil, das ebendiese Haltung tadelt (reprehendit), teile selbst der Epikureer Atticus nicht. Die geschilderte Ablehnung von Sokrates’ Ironie verstehen wir noch besser, wenn wir uns das Portrait des epikureischen Weisen vor Augen führen, das bei Diogenes Laertios zu lesen ist (Diog. Laert. 10,117; vgl. Erler 2001, 219):

Keiner, der einmal die Weisheit errungen hat (τὸν ἅπαξ γενόμενον σοφόν) wird je mehr weder die gegenteilige Disposition einnehmen (τὴν ἐναντίαν λαμβάνειν διάθεσιν) noch wird er diese absichtlich vorspielen (πλάττειν ἑκόντα).

In diesem πλάττειν ἕκων, im „absichtlichen Aufsetzen“ einer Haltung, die nicht der eigenen wahren Gesinnung entspricht (vgl. Arist. EN 4,3 1124b28–31), ließe sich schnell das sokratische Vorgehen erkennen, wie es Atticus, allerdings mit ganz anderer Wertung, gerade beschrieben hat.

Epikurs Tadel der sokratischen Ironie wurde von seinen Schülern weiter vertreten und womöglich noch verschärft. Ebenfalls von Cicero stammt eine Notiz über die Meinung des späteren epikureischen Scholarchen Zenon von Sidon, welcher Sokrates aufgrund seiner ironischen Haltung, und bewußt auf Latein, als scurra Atticus beschrieben haben soll (Nat. deor. 1,34,93 = fr. 9–10 Angeli, Colaizzo; dazu siehe Kleve 1983):

Zeno quidem non eos solum qui tum erant, Apollodorum Sillim ceteros, figebat maledictis, sed Socraten ipsum parentem philosophiae Latino verbo utens scurram Atticum fuisse dicebat, Chrysippum numquam nisi Chrysippam vocabat.


Zenon verleumdete nicht nur seine Zeitgenossen wie Apollodoros „Sillis“ („der Schielende“ – dazu siehe Pease 1955, 455) und andere, sondern bezeichnete Sokrates selbst, den Vater der Philosophie, mit einem lateinischen Wort als scurra Atticus, und nannte Chrysippus nie etwas anderes als „Chrysippa“.

Unter scurra versteht man im Lateinischen einen Possenreißer, einen Schmarotzer, der sich durch witzige, schmeichelhafte Bemerkungen die Gunst der Reichen zu verdienen versucht, ohne auf Anstand und Würde zu achten – was in etwa dem Griechischen γελωτοποιός entspricht. Ein äußerst feines Psychogramm einer solchen Figur liefert Zenons Schüler Philodem im 10. Buch seines De vitiis (Περὶ κακιῶν), welches dem Laster der Hochmut (ὑπερηφανία) gewidmet ist. Bereits in Kolumne 10 dieser im PHerc. 1008 erhaltenen Schrift wird Sokrates, zusammen mit anderen Philosophen wie Heraklit, Pythagoras und Empedokles sowie „Dichtern, die in der alten Komödie verspottet wurden“ (οὓς οἱ παλαιοὶ τῶν κωμῳδογράφων ἐπεράπιζον) als ὑπερήφανος, „hochmütig“ bezeichnet. Einige Kolumnen später (Phld. De vitiis 10 col. 21–23 Jensen = col. 21–23 Ranocchia) Vgl. Kleve 1983, 246–247; Acosta Méndez, Angeli 1992, 108–112; Angeli 2007; Campos-Daroca 2019, 250–252) charakterisiert Philodem den „Ironiker“ (ὁ δ’ εἴρων) mit seinen unverwechselbaren Merkmalen:[3] 1) Er sage das exakte Gegenteil von dem, was er über andere und über sich selbst denke: Er lobe diejenigen, die er eigentlich tadeln möchte und tadele wiederum sich selbst und seinesgleichen; 2) Er habe ein besonderes Talent, anderen etwas vorzutäuschen und sie zu überreden; 3) Er spotte, gestikuliere und lächle gerne – seine Art, Lob auszudrücken, sei meist den Umständen unangemessen; 4) Wenn er etwas gefragt werde, beteuere er, nichts zu wissen (ἐγὼ γὰρ οἶδα τί πλήν γε τούτου ὅτι οὐδὲν οἶδα;) 5) Er greife auf besondere sprachliche Gepflogenheiten zurück, die dem Gesprächspartner schmeicheln sollten, z. B. indem er dem Namen des Gegenübers ein Epitheton hinzufüge, wie bei „Phaidros der Schöne“ (Φαῖδρος ὁ καλός), oder diesen mit doppeldeutigen Adjektiven (ῥήματ’ ἀμφίβολα) wie „edel“ (γενναῖος) anspricht; 6) Er schreibe seine eigenen Ideen anderen zu, wie Sokrates es bei Aspasia tue (die Anspielung ist auf Platons Dialog Menexenos gemünzt); 7) Er weigere sich, vor versammelten Menschen zu reden, da ihm die kleinsten Dinge unlösbar zu sein schienen (τἀλάχιστα φάσκειν ἄπορα καταφαίνεσθ’ ἑαυτῷ); 8) Wenn er verspottet werde, meine er, zurecht verachtet zu werden, und mache sich vor anderen gerne auffällig klein; 9) Er ermutige andere zur Parrhesie, damit sie ihm seine Fehler offen zeigten (διασαφεῖτέ μοι τὰς ἐμὰς ἀγραμματίας καὶ τὰς ἄλλας ἀστοχίας ὑμεῖς), und fordere sie auf, ihn auf die Erfolge anderer aufmerksam zu machen, damit er sie nachahmen könne (ἵνα μιμῶμαι). Der Text bricht am Ende der Kolumne 23 ab, doch kann man mit gutem Grund mutmaßen, daß Philodem diese Auflistung mit der Bemerkung abgeschlossen haben muß, daß die sokratischen μνημονεύματα voll von solchen Beispielen seien. Damit könnten wohl Texte wie Xenophons Memorabilia, aber auch dessen Oeconomicus gemeint sein (siehe zur möglichen Identifizierung dieser Schriften Kleve 1983, 247; Acosta Méndez, Angeli 1992, 111–112; Campos-Daroca 2019, 252). Letztere Schrift kritisiert Philodem im neunten Buch De vitiis über die Verwaltung des Haushalts (Περὶ οἰκονομίας) – unter anderem die unehrliche Behauptung des dort als Figur auftretenden Sokrates, über dieses Thema diskutieren zu können, ohne tatsächlich etwas davon zu verstehen (Phld. Oec. col. 6,11–21 Tsouna (vgl. Xen. Oec. 2,11); vgl. Acosta Méndez, Angeli 1992, 121–134). Offensichtlich wird der Ironiker bei Philodem anhand von Sokrates’ Beispiel charakterisiert. Genauer gesagt: Sowohl das Bild des Sokrates als das eines „unehrlichen Ironikers“, das Epikur kritisiert, als auch die Grundlage für den χαρακτήρ, der in De vitiis geschildert wird, basieren offenbar auf der Darstellung, die Sokrates besonders in Platons aporetischen Dialogen – aber z. T. auch bei Xenophon – erfährt, wie u. a. die klaren Andeutungen auf Sokrates’ Verhalten bzw. Redewendungen zeigen.

Entspricht aber diese Interpretation des Sokrates als Aporetiker und Ironiker dem tatsächlichen Charakter des Sokrates, soweit dieser aus anderen Quellen rekonstruierbar ist? Worin bestand Sokrates’ Ironie wirklich? Die Frage läßt sich freilich nur versuchsweise beantworten. In der Apologie, die einer relativ getreuen Darstellung des historischen Sokrates nahekommen könnte (Döring 1998), lassen sich mehrere Anzeichen einer ‚ironischen Grundhaltung‘ erkennen (dazu Schneider 2019), womit zunächst Sokrates’ Neigung zum παίζειν, zu einer – wie man heute sagen würde – ‚humorvollen‘ Art des Umgangs mit Menschen und Umständen gemeint sein könnte. Gleich zu Beginn seiner Rede (Ap. Socr. 17a) lobt Sokrates seine Ankläger für ihre außerordentlich überzeugende Art zu argumentieren – sie hätten ihn beinahe dazu gebracht, „sich selbst zu vergessen“ (ὀλίγου ἐμαυτοῦ ἐπελαθόμην). Aber auch Sokrates’ Lob von Gorgias, Prodikos und Hippias als „Erzieher“, später im Text (19e: οἷός τ’ εἴη παιδεύειν ἀνθρώπους), kann in diesem Sinne interpretiert werden. Daß dies eine typische Haltung des Sokrates war, scheint auch seine Nebenbemerkung in Ap. Socr. 20d4–5 zu belegen, die der Zuhörerschaft klar machen soll, daß er in aller Ernsthaftigkeit spricht, wenn er sagt: „Vielleicht wird es einigen von Euch so scheinen, als würde ich scherzen“ (καὶ ἵσως μὲν δόξω τισὶν ὑμῶν παίζειν). Im gleichen Ton ist die Reaktion auf Meletos’ Behauptung, Sokrates sei der Einzige in Athen, der die Jugend verderbe, gehalten (Ap. Socr. 25a13): „Welch eines Übels hast du mich beschuldigt!“ (πολλήν γέ μου κατέγνωκας δυστυχίαν). Von einer bewußten – geschweige denn unaufrichtigen – Verstellung der eigenen Gedanken zu dialektischen Zwecken kann in der Apologie nicht wirklich die Rede sein. Im Gegenteil versichert Sokrates dort immer wieder, er spreche in aller Offenheit. Zu diesem Bild eines Ironikers paßt wiederum Plutarchs Äußerung in Adversus Colotem (1108b), in der er Sokrates die Charaktereigenschaften πραότης (Milde) und χάρις (hier „Sinn für Humor“) zuspricht (vgl. Kechagia 2011, 37).

Welche Art von Ironie meinen wir also, wenn wir von ‚sokratischer Ironie‘ sprechen? Wahrscheinlich sollte hier zwischen verschiedenen Arten der Ironie unterschieden werden: Einerseits begegnet uns in Platons Dialogen die Ironie, durch die Sokrates sein Nichtwissen vortäuscht, um den jeweiligen Gesprächspartner zu einer bestimmten Einsicht zu führen. Hierbei dient Ironie also als bewußt eingesetzte Gesprächsstrategie. Andererseits findet sich in seiner Selbstdarstellung in der Apologie die Ironie als eigentümliches Merkmal, etwa wenn Sokrates von παίζειν spricht (in Bezug auf sich selbst oder, beispielsweise, auf Meletos), oder offensichtlich hyperbolische Kommentare bzw. Reaktionen auf Aussagen anderer an den Tag legt. Es ist eher die erste Art der εἰρωνεία, das negativ verstandene „Sich-Verstellens zum Zwecke der Irreführung“ – was an sich immer ein Moment der Unehrlichkeit voraussetzt –, die in mancher Sokratesrezeption, und in erster Linie von den Epikureern, kritisiert wird. Natürlich wissen wir, daß Sokrates’ εἰρωνεύειν, zumindest in Platons Darstellung, zu einem guten Zweck eingesetzt wird, nämlich um das Gegenüber durch den Beweis von dessen Unwissenheit zu verbessern (vgl. Döring 1998, 163–164); andererseits ist auch zu erwarten, daß Autoren, die aus verschiedenen Gründen ohnehin Vorbehalte gegen Sokrates hatten, wie es bei Epikur und den Epikureern sicherlich der Fall war, diese wesentliche Bedeutungsverschiebung außer Acht lassen.

Was Sokrates als Ironiker kennzeichnet, ist also, aus Sicht der Epikureer, sein Mangel an Aufrichtigkeit, der ihn auch zu einem schlechten Erzieher mache. Ein Beweis dafür sei unter anderem die Tatsache, daß er nicht gemäß den Lehren lebt, die er selbst vertritt: So zumindest lautet etwa der Vorwurf des bereits erwähnten Epikureers Kolotes. Kolotes hatte eine Schrift verfaßt, in der er alle Philosophen zu widerlegen versuchte, deren Vorstellung von der richtigen Lebensweise nicht mit der seines Lehrers Epikur vereinbar war (vgl. dazu Kechagia 2011, bes. 101–104; Corti 2014, bes. 123–136; De Sanctis 2022, 393–394). Die Schrift ist verloren, aber in seinem Adversus Colotem (Πρὸς Κωλώτην) unternimmt Plutarch eine Verteidigung der von Kolotes kritisierten Autoren und verrät uns zumindest das Grundgerüst von Kolotes’ Argumenten (allgemein zu Plutarchs Bericht und Widerlegung von Kolotes’ Kritik, nicht nur an Sokrates, siehe Erler 2020, 519–521). Gleich zu Beginn der Schrift lesen wir, Kolotes habe in seinem Pamphlet Sokrates gefragt, „warum er die Nahrung in den Mund und nicht ins Ohr nehme“ (πῶς εἰς τὸ στόμα τὸ σιτίον οὐκ εἰς τὸ οὖς ἐντίθησιν), wohl mit einem Seitenhieb auf das von Sokrates behauptete Nichtwissen über sich selbst (Plut. Adv. Col. 2 1108b; vgl. dazu Plutarchs Widerlegung in 19 1117f–1118b. Siehe des Weiteren zu Kolotes’ Argument als ‚antiskeptischem τόπος’ Acosta-Méndez, Angeli 1992, 53; Erler 2001, 220). Sokrates wird hier also nicht nur als offensichtlich inkonsequent porträtiert, sondern als hätte er, um mit seiner (von Kolotes als unhaltbar angesehenen) skeptischen Haltung im Einklang stehen zu können, ein vollkommen absurdes Verhalten an den Tag legen müssen.[4] Im weiteren Verlauf von Plutarchs Schrift erfahren wir mehr über Kolotes’ Kritik an Sokrates. Seine Reden seien – so der Epikureer – die eines „Prahlers“ gewesen (ἀλαζώνας λόγους: Adv. Col. 18 1117d = fr. 314 Us. Siehe dagegen Xen. Mem. 1,5). Wenn der εἴρων, den Philodem skizziert, zu unehrlicher Selbstherabsetzung neigt, so ist die ἀλαζωνεία, die Kolotes Sokrates vorwirft, eine ebenso unehrliche, aber entgegengesetzte Haltung – der ἀλαζών rühmt sich gerne großer Dinge, die er aber in Wirklichkeit weder kann noch besitzt (vgl. Suid. s.v. εἴρων; Thphr. Char. 23; Arist. EN 4,7). Zu diesem Bild des Sokrates als „Vortäuscher“ von Eigenschaften, die er in Wirklichkeit nicht besitzt, paßt auch die Bezeichnung von Sokrates als „tugendlos“ im 7. Buch von Philodems Rhetorik. Es geht dort um den Nutzen der Rhetorik als τέχνη in Situationen, in denen die Gefahr besteht, von der eigenen Stadt Schaden zu erleiden, wie es tatsächlich bei Sokrates der Fall war. Reicht Tugend, also eine tugendhafte Lebensweise, aus, um sich vor diesem Schaden zu schützen, oder ist auch eine besondere Kompetenz erforderlich, nämlich die, überzeugende Reden zu formulieren? Philodem bestreitet, daß die Rhetorik in solchen Situationen nützlich sein könne, in denen eigentlich nur die Philosophie helfen kann. Die Tatsache also, daß Sokrates zum Tode verurteilt wurde, sei alles andere als ein Beweis dafür, daß es ihm an rhetorischer Erfahrung mangelte, die ihn vielleicht hätte retten können, sondern lediglich dafür, daß er keine wahre Tugend besaß (Σωκράτει μέντοι γ’ οὐκ ἐβοήθησεν ἡ ἀρετή, καθ’ ὅσον οὐδὲ παρῆν: Phld. Rhet. 7 (PHerc. 1669) col. 29–30 [vol. I p. 265–267 Sudhaus = fr. 10 Acosta- Méndez, Angeli]).

Zu Sokrates’ Typisierung als unaufrichtig (εἴρων oder ἀλαζών) gehört auch seine Darstellung als „Sophist“ im abwertenden Sinne (vgl. Kleve 1983, 234–235). Epikurs direkter Schüler Idomeneus von Lampsakos soll, wie Diogenes Laertios berichtet, in seinem Werk Περὶ τῶν Σωκρατικῶν geschrieben haben, daß Sokrates zusammen mit seinem Schüler Aischines als erster die Rhetorik unterrichtet habe (πρῶτος […] μετὰ τοῦ μαθητοῦ Αἰσχίνου ῥητορεύειν ἐδίδαξε: Fr. 24–25 Angeli = Diog. Laert. 2,19–20). In Platons Apologie bestreitet Sokrates jedoch, der Rhetorik mächtig zu sein, was ja auch bedeute, daß er sie nicht lehren könne (19d–20c). Bei Idomeneus’ Vorwurf handelt es sich also wahrscheinlich um eine Übertreibung, die wohl Sokrates’ besondere Art der Gesprächsführung als Zielscheibe nimmt (vgl. Acosta Méndez, Angeli 1992, 50).

Auch Sokrates’ charakteristische ἀτοπία, die Mischung aus Eigenwilligkeit, (vorgetäuschter) Naivität und Realitätsferne, die seine Figur – z. T. bei Platon und auf die Spitze getrieben bei Aristophanes – charakterisiert, wird im Epikureismus als Zeichen für eine grundsätzliche Untauglichkeit zur Vermittlung von Wissen, d. h. für eine erfolgreiche Pädagogik, angeführt. Ob die beiläufige Erwähnung von τὸ Σωκράτους σχῆμα („die Form [bzw. die Körperhaltung] des Sokrates“) in einem durch POxy 5077 überlieferten Brief des Epikur (Fr. 131 F Erbì – Kommentar: Erbì 2020, 112. 256–258) tatsächlich eine polemische Anspielung auf Sokrates’ auffälliges Auftreten impliziert, wie Angeli vermutet (Angeli 2013, 29. Vgl. Aristoph. Nub. 360–363), läßt sich weder bestätigen noch ganz ausschließen (Piergiacomi 2020, 315 Anm. 34, interpretiert diese Wendung eher einfach als „äußere Gestalt“. Vgl. zur Passage auch Campos-Daroca 2019, 241). Deutlicher ist dagegen die Kritik Philodems in De oeconomia, wenn er Sokrates’ Mangel an praktischem Sinn als sein wohlbekanntes Merkmal bezeichnet (τὸ μὲν οὖν | οὐ πραγματικὸν ἀεὶ Σωκρά|της εἶχε: Phld. Oec. col. 5,4–6 Tsouna) oder seine naive Beteuerung, der Hausverwalter (ὁ ἐπίτροπος) sei in der Lage, Menschen „gerecht zu machen“ (δικαίους ποιεῖν) einer „im Traum gehegten Überzeugung“ gleichsetzt (τοῖς [καθ.] ὕπνον | αὐτ]ὸ̣ν ἡγοῦμαι δο[ξαζ]ομέ|ν]οις ὅμοια λέγειν: Phld. Oec. col. 7,21–26 Tsouna).

III. Epikur als sokratischer Weise?

Ein nicht unwesentlicher Teil der Sokratesrezeption besteht bekanntlich in dessen Darstellung als Komödienfigur (vgl. Plat. Ap. Socr. 18d1–2; SSR I A1–30; PHerc. 495 fr. 2. col. 2 Giuliano (Giuliano 2001, 51–52); vgl. auch Giuliano 2001, 72). Manche Szenen aus Aristophanes’ Wolken sind hier wohl das Erste, was in diesem Zusammenhang in den Sinn kommt.[5] Auf diese Darstellung nimmt Sokrates selbst in Platons Apologie Bezug und bekräftigt, sie entspreche nicht der Wahrheit (Plat. Ap. Socr. 19c8: ἐμοὶ τούτων … οὐδὲν μέτεστιν. 23d3–4: τὰ κατὰ πάντων τῶν φιλοσοφοῦντων πρόχειρα ταῦτα λέγουσιν).[6]  Eine weit weniger bekannte Inszenierung des Sokrates als komische Figur dürfte diejenige sein, die aus einem römischen Mimus unbekannten Verfassers stammt. Davon erfahren wir durch ein Fragment aus einer verlorenen Rede des Cicero, der Rede Pro Gallio. Das Fragment ist von Hieronymus in einer seiner Episteln überliefert (Cic. fr. 4 Crawford = Hier. ep. 52,8). Hier heißt es, daß Sokrates zusammen mit Epikur auf der Bühne aufgetreten sei, wahrscheinlich in einer Symposium-Szene. Daß ein solches Treffen rein chronologisch unmöglich gewesen wäre, merkt Cicero gleich an und wertet dies als ein Zeichen dafür, daß der publikumsgefällige Mimus-Autor völlig ungebildet war – spöttisch nennt er ihn perlitteratus. Warum nun Epikur und Sokrates in diesem Mimus gemeinsam auf der Bühne gezeigt werden und worüber sie sich miteinander unterhielten, kann nur erraten werden. Lieferten sie sich aus unterschiedlichen Positionen heraus einen dialektischen Kampf um das Ziel des guten Lebens? [7] Oder vertraten sie dort ähnliche Ansichten? Bisher haben wir gesehen, daß Epikur und einige seiner Schüler vor allem die methodischen Grundlagen der sokratischen Pädagogik scharf kritisierten und ablehnten. Und doch – das haben insbesondere die Beiträge von M. Erler gezeigt (Siehe bes. Erler 2001 und 2009) – scheinen sich Epikur und Sokrates in der Rezeptionsgeschichte manchmal viel näher zu stehen, als oft angenommen wurde (vgl. Acosta Méndez, Angeli 1992, 36–37; Campos-Daroca 2019, 237). Nicht zuletzt, wie J. E. Heßler kürzlich vorschlug, gerade im Bereich der Pädagogik, insofern als Epikur die Methode der sokratischen Protreptik übernommen haben könnte (Heßler 2018). 

In einem fiktiven Brief des Alkiphron schreibt die Hetäre und Epikurschülerin Leontion an ihre Freundin Lamia (Usener 1887, 146 = fr. 69T Erbì), Epikur „verhalte sich wie ein Sokrates“ (σωκρατίζειν), verstelle sich durch Ironie (εἰρωνεύεσθαι), halte Pythokles für einen Alkibiades und sie selbst für eine Xanthippe. In diesem Fall sind die Parallelen, die stark an die platonische Maske des Sokrates angelehnt sind, gewiß auf parodistische Absicht zurückzuführen. Jedoch: Könnte Leontions Vergleich nicht auch darauf hindeuten, daß Sokrates und Epikur von manchen als Verkörperung eines gewissen Philosophentyps wahrgenommen wurden?

Selbstbeherrschung, Weisheit und Genügsamkeit sind Eigenschaften, die traditionell sowohl Sokrates als auch Epikur zugeschrieben wurden und womöglich jene gemeinsame Basis darstellen, die manchmal dazu führt, daß sie beide tatsächlich unter einen bestimmten Charakter zusammengefaßt werden (Siehe Erler 2001, 216). Sokrates als selbstbeherrschter, weiser und genügsamer Mann begegnet uns vor allem in der Darstellung Xenophons (vgl. etwa Xen. Mem. 1,1,11–16; 1,2,1–8. Siehe Döring 1979, 2; Erler 2001, 203 und Anm. 12; O’Connor 2011. Vgl. fr. 28 Acosta Méndez, Angeli; Phld. PHerc. 558 Sottoposto 1 col. 1 Giuliano).[8] Epikur wiederum wird von seinen Anhängern als der σοφός schlechthin wahrgenommen und verehrt, wobei sein genügsamer Lebensstil, trotz aller späteren Vorwürfe, ein kennzeichnendes Element seines Hedonismus ist. Es ist bezeichnend, daß Cicero gerade diesen Aspekt der epikureischen Lebensführung mit einem Verweis auf die wiederum ‚authentische‘ Genügsamkeit des Sokrates ins Lächerliche zieht. Im fünften Buch der Tusculanae, im Rahmen einer Diskussion über die Interdependenz von Tugend und Glück, bemerkt Cicero (Cic. Tusc. 5,9,26 = fr. 459 Us.):

An malumus Epicurum imitari? qui multa praeclare saepe dicit; quam enim sibi constanter convenienterque dicat, non laborat. laudat tenuem victum. philosophi id quidem, sed si Socrates aut Antisthenes diceret, non is qui finem bonorum voluptatem esse dixerit.


Ziehen wir es vor, Epikur zu imitieren? Er spricht oft sehr gut: Denn er achtet dabei kaum auf Konsistenz oder Angemessenheit. Er lobt einen bescheidenen Lebensstil: Das ist zwar eines Philosophen würdig, aber nur wenn ein Sokrates oder ein Antisthenes dies getan hätten, nicht er, der die Lust als höchstes Gut definiert hat![9]

Genügsamkeit als gemeinsames Element von Sokrates’ und Epikurs Definition eines guten Lebens taucht auch bei Juvenal, einem anderen römischen Autor, auf, wenn er den Inhalt von Epikurs bekannter Triade μὴ πεινῆν, μὴ διψῆν, μὴ ῥιγοῦν (GV 33: „Nicht hungern, nicht dürsten, nicht frieren“; siehe dazu Arrighetti 1973, 562–563) implizit auf das exemplum Socratis zurückführt (Juv. Sat. 14,316 = fr. 472 Us.):

mensura tamen quae | sufficiat census, si quis me consulat, edam: | in quantum sitis atque fames et frigora poscunt, | quantum, Epicure, tibi paruis suffecit in hortis, | quantum Socratici ceperunt ante penates; | numquam aliud natura, aliud sapientia dicit.


Und doch, wenn mich jemand fragt, | was das hinreichende Maß eines Vermögens ist, so werde ich antworten: | was Durst, Hunger und Kälte erfordern, | was, o Epikur, dir in deinen kleinen Gärten genügte, | was Sokrates’ Penaten zuvor zu sich genommen hatten; | es kommt nie vor, daß die Natur das eine sagt und die Weisheit das andere.

Eben dieser Gedanke, der später breit rezipiert wird, (Vgl. Boudon-Millot 2011) wird im pseudoplatonischen Dialog Eryxias (datiert auf das 3. Jh., siehe Donato 2023: 17–22) tatsächlich Sokrates in den Mund gelegt, der in einer Diskussion mit Kritias über die Rolleder Genügsamkeit für ein glückliches Leben seinem Gesprächspartner die folgende rhetorische Frage stellt ([Plat.] Eryx. 404a5–8):

Τί δ᾿ εἰ ὑπάρχοι τῷ ἀνθρώπῳ σιτία καὶ ποτὰ καὶ ἱμάτια καὶ τἆλλα οἷς αὐτὸς πρὸς τὸ σῶμα μέλλοι χρῆσθαι, ἆρ᾿ ἄν τι προσδέοιτο χρυσίου ἢ ἀργυρίου ἢ ἄλλου του, οἷς ταῦτα ποριεῖται ἅ γε δὴ ὑπάρχοι;

Wenn der Mensch mit Essen, Trinken, Kleidung – mit einem Wort mit allem, was er für seinen Körper benötigt – versorgt wäre, bräuchte er dann noch Gold, Silber oder etwas anderes, um sich das zu verschaffen, was ohnehin schon da ist?

Genügsamkeit ist jedoch nicht das Einzige, was Sokrates und Epikur als σοφοί verbindet. Sowohl für Sokrates als auch für Epikur steht die Sorge um die Seele des Einzelnen im Mittelpunkt (vgl. Acosta-Méndez, Angeli 1992, 32), was wiederum in beiden Fällen zu einer Distanzierung von politischen und öffentlichen Angelegenheiten führt. In Buch 3 seiner Rhetorik verweist Philodem auf Sokrates als erfolgreichen Vermittler bei individuellen Streitigkeiten, der aber, wie der Verlauf seines Prozesses zeigte, kaum einen Einfluß auf die Masse gehabt habe (Phld. Rhet. 3 (PHerc. 1506) col. 18,9–28 [vol. II p. 223 Sudhaus = fr. 17 Acosta-Méndez, Angeli]. Vgl. Acosta-Méndez, Angeli 1992, 119–120). Dies war vermutlich auch Sokrates’ eigene Absicht, wenn er sich in Platons Apologie als jemanden beschreibt, der sich viel lieber in privaten Gesprächen mit Einzelnen um das Gemeinwohl kümmert und sich konsequenterweise möglichst wenig der Öffentlichkeit aussetzt. Die aktive Beteiligung an politischen Angelegenheiten habe er, der Stimme des δαιμόνιον folgend, möglichst vermieden (Plat. Ap. 31c4–d7):

ἴσως ἂν οὖν δόξειεν ἄτοπον εἶναι, ὅτι δὴ ἐγὼ ἰδίᾳ μὲν ταῦτα συμβουλεύω περιιὼν καὶ πολυπραγμονῶ, δημοσίᾳ δὲ οὐ τολμῶ ἀναβαίνων εἰς τὸ πλῆθος τὸ ὑμέτερον συμβουλεύειν τῇ πόλει. τούτου δὲ αἴτιόν ἐστιν ὃ ὑμεῖς ἐμοῦ πολλάκις ἀκηκόατε πολλαχοῦ λέγοντος, ὅτι μοι θεῖόν τι καὶ δαιμόνιον γίγνεται φωνή […] τοῦτ’ ἔστιν ὅ μοι ἐναντιοῦται τὰ πολιτικὰ πράττειν, καὶ παγκάλως γέ μοι δοκεῖ ἐναντιοῦσθαι.

Vielleicht mag es seltsam vorkommen, daß ich im Privaten solche Ratschläge gebe und mich um die Angelegenheiten anderer tatkräftig kümmere, während ich mich in der Öffentlichkeit nicht traue, vor das Volk zu treten und die Stadt über eure Interessen zu beraten. Der Grund dafür ist das, was ihr schon oft von mir gehört habt: daß ich so etwas wie eine göttliche und dämonische Stimme in mir habe [...]. Das ist es, was mich davon abhält, mich in die Politik einzumischen, und dies zu Recht, wie es mir scheint.

Kurz danach heißt es noch (Plat. Ap. Socr. 32a1–4):

ἀναγκαῖόν ἐστι τὸν τῷ ὄντι μαχούμενον ὑπὲρ τοῦ δικαίου, καὶ εἰ μέλλει ὀλίγον χρόνον σωθήσεσθαι, ἰδιωτεύειν ἀλλὰ μὴ δημοσιεύειν

Wer wirklich für die Gerechtigkeit kämpft, muß, wenn er sich auch nur für kurze Zeit retten will, ein privates und kein öffentliches Leben führen.

Obwohl Sokrates nichtsdestoweniger am politischen Leben in Athen teilnahm und sein Leben nie völlig abseits des Öffentlichen führte (Roskam 2007, 5. 65–66. 114), liegt hier ein Vergleich mit Epikurs entschiedener Verwerfung des politischen Engagements nahe. Epikurs Abneigung gegen aktive Politik wird durch mehrere Quellen belegt. In der knappen Beschreibung des epikureischen σοφός, die er dem Brief an Menoikeus unmittelbar voranstellt (siehe supra), zitiert Diogenes Laertios aus dem Traktat Περὶ βίων, in dem Epikur das Gebot ausspricht, „(der Weise) soll sich nicht am politischen Leben beteiligen“ (Diog. Laert. 10,119 = fr. 8 Us.: οὐδὲ πολιτεύσεσθαι). Ähnlich lautet die Ermahnung, die im Gnomologium Vaticanum zu lesen ist (GV 58):

Ἐκλυτέον ἑαυτοὺς ἐκ τοῦ περὶ τὰ ἐγκύκλια καὶ πολιτικὰ δεσμωτηρίου.

Es gilt, sich aus dem Gefängnis von Geschäft und Politik zu befreien.

Epikur selbst hatte sich an diese Maxime stets gehalten, die auch mit seinen charakterlichen Neigungen einhergegangen sein soll: Wieder von Diogenes erfahren wir, daß er „sich aus Bescheidenheit vom politischen Leben fernhielt“ (Diog. Laert. 10,10: ὑπερβολῇ γὰρ ἐπιεικείας οὐδὲ πολιτείας ἥψατο). Sowohl in Sokrates’ als auch in Epikurs Fall ist die Zurückhaltung, aktiv am politischen Leben teilzunehmen, auf die individuelle Ausrichtung ihrer philosophischen Botschaft zurückzuführen. Weder Sokrates noch der epikureische Weise sprechen gerne zu den Massen: οὐ πανηγυριεῖν δέ, „er wird keine öffentliche Rede halten“, heißt es in der mehrfach erwähnten Beschreibung des σοφός, die Diogenes bietet (Diog. Laert. 10,120a = fr. 566 Us.). Beide bevorzugen das persönliche Gespräch bzw. das Gespräch im vertrauten Kreis der Schule, weit weg von den Feindseligkeiten und potentiellen Mißverständnissen der Öffentlichkeit. Die erste Sorge gilt der individuellen – und zunächst der eigenen – Seele. Epikur nennt dies τὸ κατὰ ψυχὴν ὑγιαῖνον, „die Gesundheit der Seele“ (Ep. Men. 122); Sokrates wiederum spricht von τὸ ἑαυτοῦ ἐπιμελεῖσθαι, „die Sorge um sich selbst“ (Plat. Alc. I 127e1–2) – eine Konvergenz, die nicht zuletzt als Folge des gemeinsamen Verständnisses von Form und Funktion protreptischer Reden interpretiert wurde (Siehe Heßler 2018, 674–675). Sorge um die eigene Seele bedeutet aber auch meditatio mortis. Die philosophischen Argumente, die diese „Sorge um die Seele“ ausmachen, beruhen auf ganz unterschiedlichen Annahmen: einerseits (Sokrates) das Fortleben der ψυχή nach dem Tod; andererseits (Epikur) ihre völlige Auflösung (Heßler 2014, 218–219); aber die Prämisse läßt sich dennoch unter eine gemeinsame Formulierung bringen: Philosophieren als Sorge um die Seele, das gleichzeitig eine Vorbereitung auf einen furchtlosen Tod ist.

Halten wir nun diese Beobachtung fest und kehren zu der Frage zurück, ob und inwiefern im Epikureismus auch eine positive Rezeption des Sokrates zu erkennen ist. Grundsätzlich ist eine billigende Darstellung von Sokrates durch epikureische Autoren vor allem dann zu erwarten, wenn es nicht gerade um Sokrates’ pädagogische Methode geht, sondern generell um seine Haltung als Philosoph. Dies ist besonders deutlich an Philodems Wertung des Sokrates zu beobachten (Siehe Acosta Méndez, Angeli 1992, 102–138; Erler 2001, 222). Während die Abhandlung De vitiis, wie wir gesehen haben, eine gnadenlose Zeichnung des Sokrates als Verkörperung des unaufrichtigen Ironikers bietet und damit eine klare Verurteilung der εἰρωνεία als pädagogisches Mittel zum Ausdruck bringt,[10] erscheint Sokrates in anderen Werken des Philodem, nämlich in der Rhetorik und im vierten Buch De morte, als durchaus positives Vorbild (vgl. Acosta Méndez, Angeli 1992, 112–115). Im 3. Buch der Rhetorik (in einem ansonsten textuell sehr lückenhaften Kontext) wird Rhetorik, die nach Philodems Ansicht keine zwingende Verbindung zur Philosophie haben muß, dem echten philosophischen Diskurs gegenübergestellt, der wiederum stets um die Wahrheit bemüht ist: Als ‚klassisches‘ Beispiel dieses Strebens um Wahrheit, und damit der Überlegenheit des philosophischen Diskurses, scheint hier Sokrates angeführt zu werden (Phld. Rhet. 3 (PHerc. 1506) col. 5 [vol. II pp. 207–208 Sudhaus = fr. 16 Acosta Méndez, Angeli]. Vgl. Acosta Méndez, Angeli 1992, 118). Ebenso viel Anerkennung zollt Philodem Sokrates’ Haltung gegenüber der ihm von ungerechten Mächten auferlegten Todesstrafe, wie es in De morte im Kontext einer typischen Argumentation der Trostliteratur klar wird (Phld. Mort. 4 col. 33,37–34,7 Henry = fr. 7 Acosta Méndez, Angeli):[11]

[π]άλιν δὴ συνγνωστὸν ἂν̣ δόξειε[ν] | εἶναι τὸ λυπεῖσθαι μέλλοντα καταστ[ρ]έ|φειν βιαίως ὑπὸ δικαστηρίου κατακεκρι|μένον ἢ δυνάστου, καθάπερ ὁ Παλαμή|δης καὶ Σωκράτης καὶ Καλλισθένης· ἔσ|τι μὲν γὰρ ἀμέλει τῶν ἄγαν παραλό|γων καὶ σπανιωτάτων περὶ σοφοὺς ἄν|δρας.

Andererseits scheint es verzeihlich zu sein, wenn man aufgrund einer Verurteilung durch ein Gericht oder einen Herrscher gewaltsam sterben muß, wie etwa Palamedes, Sokrates und Kallisthenes. Denn dies gehört natürlich zu den Dingen, die äußerst unvorhersehbar und in Bezug auf weise Männer (περὶ σοφοὺς ἄνδρας) sehr ungewöhnlich sind.

Zusammen mit Palamedes und Kallisthenes wird Sokrates als σοφὸς ἀνήρ bezeichnet, und hochwahrscheinlich basiert hier Philodems Bild des Sokrates auf der Präsentation, die Platon in der Apologie vorlegt (siehe Acosta Méndez, Angeli 1991, 234–243). Besonders relevant an dieser letzten Passage ist die Tatsache, daß Sokrates’ Tod als exemplum für einen Tod im Sinne philosophischen Gleichmuts dargestellt wird, und zwar ungeachtet der – für einen Epikureer unhaltbaren – Argumente, die bei Sokrates zu dieser Haltung geführt haben. Es gilt jedoch zu beachten: Wenn auch Sokrates dem Tod durch die Macht des Stadtgerichts als σοφός begegnet, so bleibt ihm Epikur jedenfalls insofern überlegen, als daß dieser mit seinem Verhalten – vor allem in Bezug auf seine Frömmigkeit – niemals in Konflikt mit den athenischen Institutionen geriet: Auf einen impliziten Vergleich zwischen Sokrates und Epikur in dieser Hinsicht deutet eine Passage aus Philodems De pietate hin (Phld. Piet. 1 col. 53,8–24 Obbink; vgl. Acosta Méndez, Angeli 1992, 137–138):

τοι|[γ]αροῦν ἐνίων μὲν | ἐγκληθέν͙των ἐπὶ | τῶι βίωι καὶ τοῖ̣ς̣ λό|γοις φιλοσόφων, ἐ|νίων δὲ κἀκ τῆς πό|λεως, τινῶν δὲ κἀ|κ τῆς συμμαχίας ἐ|ξορισθέντων καὶ θ̣α|νατωθέντων, ἁπάν|των δὲ κωμωιδη|θ̣έντων, μόνος Ἐπί|[κ]ουρος ἅμα τοῖς γνη|[σί]ως συμβιώσασι[ν | α]ὐτῶι͙ μεγα͙λ͙ο͙μ͙ε|[ρῶ]ς διεφύλαξεν αὑ|[τ]όν (…).

Während nämlich einige Philosophen wegen ihrer Lebensweise und ihrer Lehren verfolgt und einige aus der Stadt verbannt, andere sogar aus dem Bündnis ausgeschlossen und hingerichtet wurden und alle zur Zielscheibe von Komödienschreibern wurden, sicherte Epikur allein in großartiger Weise Schutz für sich und diejenigen, die mit ihm als loyale Schüler (γνησίως) zusammenlebten […].

Ähnlichkeiten zwischen Sokrates und Epikur, besonders im Hinblick auf die Haltung des Weisen, können also auf der einen Seite zu einer eher milderen, gar positiven Darstellung von Sokrates durch einige Epikureer geführt haben. Auf der anderen Seite könnte eben diese Nähe auch ein Grund dafür gewesen sein, daß manche Kritik gegen Sokrates aus dem epikureischen Lager so harsch ausfiel – als wäre hier, wie eingangs angedeutet, das Unbehagen an einer drohenden Konkurrenz spürbar. Womöglich zeigt sich darin auch die Absicht, klare Grenzen zu ziehen, um die eigene philosophische Identität und den Anspruch auf Originalität zu wahren (siehe Döring 1998, 169)[12] – gewiß auch in indirekter Form, etwa durch das sokratische Erbe von Arkesilaos’ skeptischer Akademie. Eine solche Behandlung – um wieder mit einem Zeugnis der sonst üblichen antisokratischen Haltung der Epikureer zu schließen – widmet Kolotes dem Sokrates. In offenem Widerspruch zu der Wertung von Sokrates als σοφός, die wir gerade in Philodems De morte gesehen haben, weist Kolotes die Bezeichnung von Sokrates als σοφώτατος, wie sie Chairephon von der Pythia in Delphi erfährt, als ein absichtlich ausgedachtes Loblied zurück (Plut. Adv. Col. 17 1116e–f = fr. 314 Us. Eine Anspielung auf diese bekannte Anekdote könnte in Phld. PHerc. 558 fr. 16 Giuliano (Giuliano 2001, 77–78) zu erkennen sein): „Die Anekdote von Chairephon werde ich weglassen“, heißt es in Plutarchs Zitat, „denn sie ist eine vollkommen grobe und sophistische Erzählung“ (τὸ μὲν οὖν τοῦ Χαιρεφῶντος διὰ τὸ τελέως σοφιστικὸν καὶ φορτικὸν διήγημα εἶναι παρήσομεν).[13]

IV. Schlußbemerkungen

So fragmentarisch sie manchmal auch sind, werfen die Quellen zur Sokrateskritik im Epikureismus, wie ich zu zeigen versuchte, wichtige methodische Fragen auf. Sokrates’ Ironie als Zeichen einer unaufrichtigen Haltung dem Gesprächspartner gegenüber steht hier im Mittelpunkt der Kritik. Es ist anzunehmen, daß der Hintergrund dieser Divergenz der offene Widerspruch zum epikureischen Konzept von Parrhesie war. Gute Pädagogik kann aus Sicht der Epikureer nur auf vollständiger Transparenz in der Wissensvermittlung beruhen, was wiederum jede Art ‚didaktisch‘ bedingter Form von Verstellung von Seiten des Lehrers ausschließt. Allerdings ist Sokrates’ ironische Disposition, wenn man sich an dessen Darstellung in der platonischen Apologie hält, womöglich anders zu deuten. Die Kritik an Sokrates’ Ironie ist also auch eng verbunden mit der Frage, welches Bild des Sokrates jeweils rezipiert wird. Es gibt textuelle Evidenz dafür, daß die epikureische Rezeption der Sokratesfigur besonders auf Platons aporetischen Dialogen, z. T. aber auch auf Aristophanes’ Parodie Bezug nimmt. Die mitunter deutlich positivere Wertung des Sokrates als Philosoph, die uns vor allem in einigen von Philodems Schriften begegnet, ist wiederum sowohl auf Xenophon als auch auf Sokrates’ Selbstdarstellung in Platons Apologie zurückzuführen. Diese positive Wertung läßt sich durch grundsätzliche Konvergenzpunkte zwischen Sokrates’ und Epikurs Entwurf der philosophischen Lebensweise erklären. Gerade diese könnten aber bei manchen Epikureern wie Kolotes auch zu einer bewußt eingesetzten ‚Verteidigung durch Angriff‘ geführt haben.

Anmerkungen

[1]Nach Erler ist die Kritik an Sokrates’ Ironie vor allem dem dogmatischen Charakter der epikureischen Wissensvermittlung geschuldet, wobei die Ironie aus epikureischer Perspektive wiederum das Hauptmittel einer skeptischen, und damit abzulehnenden, Art der Wissensvermittlung darstellt.

[2]Soweit nichts anders angegeben, stammen die Übersetzungen vom Verfasser.

[3]Philodems Quelle ist hier die Schrift Περὶ τοῦ κουφίζειν ὑπερηφανίας, die wahrscheinlich dem Peripatetiker Ariston von Keos zuzuschreiben ist (für eine Identifikation mit dem Stoiker Ariston von Kios plädiert dagegen Ranocchia 2007).

[4]Laut Delle Donne 2017, 2961 ist es vor allem der ‚skeptische‘ Sokrates, der u. a. von Arkesilaos als Vorbild übernommen wird, den Kolotes in seiner Schrift (und auch anderswo: etwa in den fragmentarisch erhaltenen Contra Lysin und Contra Euthydemum, wozu Kleve 1983, 231; De Sanctis 2022) kritisierte: siehe hierzu Acosta-Méndez, Angeli 1992, 55–81. Gegen eine größtenteils durch Arkesilaos’ skeptische Positionen vermittelte Rezeption des Sokrates bei Kolotes, statt dessen für eine stärkere Rolle des ‚platonischen‘ Sokrates in dieser Rezeption argumentiert nun De Sanctis 2022.

[5]Auf Aristophanes’ Darstellung des Sokrates könnte sich Philodem beziehen in PHerc. 495 fr. 4 col. 2, wo der Terminus ἡ κάρδοπος (Backmulde), der gerade in Aristophanes’ Wolken vorkommt (Nub. 678: Sokrates belehrt Strepsiades über das richtige Genus verschiedener Substantive), laut Herausgeber mit relativer Sicherheit lesbar ist. Eine Anspielung auf die in Platons Phaedon angesprochene vorsokratische Theorie (Plat. Phaed. 99b8), die Erde sei durch die Luft gestützt ὥσπερ καρδόπῳ πλατείᾳ, wäre hier laut Giuliano (2001, 55) ebenso nicht auszuschließen. PHerc. 495 und 558, über Sokrates und seine Schule (wohl zwei Kopien desselben Werkes) sind wahrscheinlich als Teile von Philodems Σύνταξις τῶν φιλοσόφων zu betrachten: siehe Giuliano 2011, 45; Fleischer 2021, 11.

[6]In der Tat vereint Sokrates’ Figur in Aristophanes’ Charakterisierung viele Elemente, die in der Wahrnehmung des Publikums als typische Züge eines „Intellektuellen“ galten: Döring 1998, 156; vgl. auch Imperio 1998.

[7]Laut Diogenes Laertios (fr. 63 Us. = 1,119 Arr.2) behauptete Epikur in seinem Symposium, der σοφός solle nicht „leichtfertig im Rausch schwatzen“ (οὐδὲ μὴν ληρήσειν ἐν μέθῃ φησί), was als polemische Anspielung auf Sokrates im platonischen Symposium verstanden werden könnte. Vgl. Campos-Daroca 2019, 240. Zu Epikurs Auseinandersetzung mit Platons Dialogen vgl. ferner Verde 2020.

[8]Sokrates’ Behauptung in Xenophons Oeconomicus (2,4–8), daß ihm fünf minae für das Notwendigste genügten und Wohlstand (εὐετηρία) im Leben keine Rolle spiele, weist Philodem in De oeconomia (col. 5,4–14 Tsouna) – freilich eher konkret auf die Verwaltung eines Haushaltes als auf die Lebensweise des Philosophen bezogen – als „wirklichkeitsfremd“ (ἄτοπον) und „vernunftwidrig“ (τῷ νῷ μαχόμενον) zurück.

[9]Vgl. zur Struktur von Ciceros Argument Plut. Adv. Col. 18 1117e: ἐκεῖνος ἦν, ὦ μακάριε, κατὰ Σωκράτους ἔλεγχος ἕτερα μὲν λέγοντος ἕτερα δὲ πράττοντος, εἰ τὸ ἡδέως ζῆν τέλος ἐκθέμενος οὕτως (scil. wie Sokrates tatsächlich lebte) ἐβίωσε.

[10]Die Interpretation von fr. 26 aus Philodems De libertate dicendi als positive Bewertung der Ironie als maßvoll  eingesetzter Strategie der Ermahnung beruht auf einer Konjektur und kann daher nicht als belastbares Zeugnis angeführt werden (pace Acosta Méndez, Angeli 1992, 106): Phld. Lib. dic. fr. 26,4–12 Olivieri: τιθῶμεν δὲ πρὸ ὀμ|μάτων καὶ τὴν διαφο|ρὰν ἣν ἔχει κηδεμονι|κὴ νου̣θέτησις ⟦ἀρ⟧ ἀ̣ρ̣ε̣σ̣|[κούση]ς̣ μέν, ἐπιει[κ]ῶς δὲ | [δ]ακν̣ο̣ύσης ἅπαντας ‹ε›ἰρω|νείας. κ̣αὶ δὴ γὰρ ὑπ̣ὸ ταύ|της ἔ[ν]ιοι δελεα[ζό]μ̣ενοι | [τὴν νουθέτησιν ἡδέως ἀναδέ|χονται]. Vgl. Konstan et al. 1998, 43: „O[livieri]’s conjecture for line 12 ([τὴν νουθέτησιν ἡδέως ἀναδέ|χονται]) is pure speculation“.

[11]Siehe Clay 2003. Der vermeintliche Verweis auf ein „Σωκράτειον“, ein „sokratisches Argument“, dessen sich Epikur in seinem Περὶ βίων bedient haben soll (dazu siehe Erler 1994, 86) wird durch die neue Lektüre des Papyrus nicht bestätigt (Phld. Mort. col. 1,14–15 Henry; = fr. 2 Acosta-Méndez, Angeli; siehe Henry 2009, 4) und fällt deshalb als mögliche Quelle aus.

[12] Erler 2001, 215 interpretiert einerseits die Sokrateskritik als Versuch, die stoische Aneignung sokratischer Argumente (dazu siehe insbes. Erler 2001, 205–215) zu kontern; andererseits die respektvolle Haltung, die manche Epikureer wie Philodem ihm gegenüber an den Tag legen, als Versuch, „die Konkurrenz auszustechen“.

[13] Dabei macht sich Kolotes auch über Sokrates’ philosophisches Hauptanliegen, die Erforschung des Wesens des Menschen (ζητοῦντα τί ἄνθρωπός ἐστι), lustig und verspottet seine Beteuerung, er wisse nicht, wer er selbst sei, als νεανιεύεσθαι („sich leichtsinnig wie ein Jugendlicher verhalten“). Das Verb νεανιεύεσθαι ist typisch sokratisch-platonisch, kommt etwa in Phaedr. 235a6 in Bezug auf den Stil von Lysias’ Rede vor. Es ist davon auszugehen, daß es hier von Kolotes mit bewußt polemischer Absicht verwendet wird.

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English abstract

This article reviews the surviving evidence for the Epicurean appraisal of Socrates and assesses how that reception shaped Epicurean views on pedagogy and philosophical identity. After assembling the testimonia—principally Epicurus, Metrodorus, Colotes, Philodemus, Plutarch, and Cicero—the study distinguishes two main strands of argument. 1) A critical strand accuses Socrates of εἰρωνεία (ironic dissimulation) and aligns him with the sophists, presenting his method as incompatible with the Epicurean ideal of open, direct teaching (παρρησία). 2) A conciliatory strand, attested above all in Philodemus, highlights points of convergence, including temperance, therapeutic self-examination, and preparedness for death. By tracing how these strands interact within Epicurean polemics, the article shows that disagreement over Socrates served as an internal catalyst for clarifying Epicurean educational principles and for marking the boundaries between schools. The case illustrates more broadly how polemical engagement in the Hellenistic period could function both as a means of self-definition and as a channel for the selective appropriation of rival doctrines.

keywords | Epicureanism; Socrates; Pedagogy; Parrhesia; Hellenistic Philosophical Debates.

La Redazione di Engramma è grata ai colleghi – amici e studiosi – che, seguendo la procedura peer review a doppio cieco, hanno sottoposto a lettura, revisione e giudizio questo saggio
(v. Albo dei referee di Engramma)

Per citare questo articolo / To cite this article: Vincenzo Damiani, Antike Kritik an der sokratischen Pädagogik am Beispiel der Epikureer, “La Rivista di Engramma” n. 225, giugno 2025.

doi: https://doi.org/10.25432/1826-901X/.225.0004