Bilderatlas Mnemosyne. Einleitung
Aby Warburg
L'Introduzione a Mnemosyne è l'unico testo compiuto di Aby Warburg sul progetto Bilderatlas. Warburg scrisse l'Einleitung nel 1929, ai fini della presentazione editoriale dell'Atlante. Su questo breve saggio, trasposto in redazione dattiloscritta da Gertrud Bing, sembra non esservi stata un'ulteriore revisione da parte dell'autore. Di seguito si pubblica il testo in lingua originale, secondo l'edizione a cura di Martin Warnke (con la collaborazione di Claudia Brink), Akademie Verlag, Berlin 2000, pp. 3-6. Una versione italiana del testo, ridotta e commentata, è pubblicata in Engramma, a cura di Giulia Bordignon.
Bewußtes Distanzschaffen zwischen sich und der Außenwelt darf man wohl als Grundakt menschlicher Zivilisation bezeichnen; wird dieser Zwischenraum das Substrat künstlicher Gestaltung, so sind die Vorbedingungen erfüllt, daß dieses Distanzbewußtsein zu einer sozialen Dauerfunktion werden kann, deren Zulänglichkeit oder Versagen als orientierendes geistiges Instrument eben das Schicksal der menschlichen Kultur bedeutet. Dem zwischen religiöser und mathematischer Weltanschauung schwankenden künstlerischen Menschen kommt das Gedächtnis sowohl der Kollektivpersönlichkeit wie des Individuums in einer eigentümlichen Weise zur Hilfe: nicht ohne weiteres Denkraum schaffend, wohl aber an den Grenzpolen des psychischen Verhaltens die Tendenz zur ruhigen Schau oder orgiastischen Hingabe verstärkend. Es setzt die unverlierbare Erbmasse mnemisch ein, aber nicht mit primär schützender Tendenz, sondern es greift die volle Wucht der leidenschaftlich-phobischen, im religiösen Mysterium erschütterten gläubigen Persönlichkeit im Kunstwerk mitstilbildend ein, wie andererseits aufzeichnende Wissenschaft das rhythmische Gefüge behält und weitergibt, in dem die Monstra der Phantasie zu zukunftsbestimmenden Lebensführern werden. Um die kritischen Phasen im Verlauf dieses Prozesses durchschauen zu können, hat man sich des Hilfsmittels der Erkenntnis von der polaren Funktion der künstlerischen Gestaltung zwischen einschwingender Phantasie und ausschwingender Vernunft noch nicht im vollen Umfang der durch ihre Dokumente bildhaften Gestaltens möglichen Urkundendeutung bedient. Zwischen imaginärem Zugreifen und begrifflicher Schau steht das hantierende Abtasten des Objekts mit darauf erfolgender plastischer oder malerischer Spiegelung, die man den künstlerischen Akt nennt. Diese Doppelheit zwischen antichaotischer Funktion, die man so bezeichnen kann, weil die kunstwerkliche Gestalt das Eine auswählend umrißklar herausstellt, und der augenmäßig vom Beschauer erforderten, kultlich erheischten Hingabe an das geschaffene Idolon schaffen jene Verlegenheiten des geistigen Menschen, die das eigentliche Objekt einer Kulturwissenschaft bilden müßten, die sich illustrierte psychologische Geschichte des Zwischenraums zwischen Antrieb und Handlung zum Gegenstand erwählt hätte. Der Entdämonisierungsprozeß der phobisch geprägten Eindruckserbmasse, der die ganze Skala des Ergriffenseins gebärdensprachlich umspannt, von der hilflosen Versunkenheit bis zum mörderischen Menschenfraß, verleiht der humanen Bewegungsdynamik auch in den Stadien, die zwischen den Grenzpolen des Orgiasmus liegen, dem Kämpfen, Gehen, Laufen, Tanzen, Greifen, jenen Prägrand unheimlichen Erlebens, das der in mittelalterlicher Kirchenzucht aufgewachsene Gebildete der Renaissance wie ein verbotenes Gebiet, wo sich nur die Gottlosen des freigelassenen Temperaments tummeln dürfen, ansah. Der Atlas zur Mnemosyne will durch seine Bildmaterialien diesen Prozeß illustrieren, den man als Versuch der Einverseelung vorgeprägter Ausdruckswerte bei der Darstellung bewegten Lebens bezeichnen könnte.
Er will in seiner bildmaterialen Grundlage zunächst nur ein Inventar sein der antikisierenden Vorprägungen, die auf die Darstellung des bewegten Lebens im Zeitalter der Renaissance mitstilbildend einwirkten.
Eine solche vergleichende Betrachtung mußte sich, besonders da systematisch zusammenfassende Vorarbeiten auf diesem Gebiet fehlen, auf die Untersuchung des Gesamtwerkes von wenigen Hauptkünstlertypen beschränken, dafür aber versuchen, durch eine tiefer eindringende sozialpsycholgische Untersuchung den Sinn dieser gedächtnismäßig aufbewahrten Ausdruckswerte als sinnvolle geistestechnische Funktion zu begreifen.
Schon 1905 war dem Verfasser bei solchen Versuchen die Schrift von Osthoff über das Suppletivwesen der indogermanischen Sprache zu Hilfe gekommen: er wies zusammenfassend nach, daß bei Adjektiven und Verben ein Wortstammwechsel in der Komparation oder Konjugation eintreten kann, nicht nur ohne daß die Vorstellung der energetischen Identität der gemeinten Eigenschaft oder Aktion darunter leidet, obwohl die formale Identität des wortgeformten Grundausdrucks wegfällt, sondern daß der Eintritt eines fremdstämmigen Ausdrucks eine Intensifikation der ursprünglichen Bedeutung bewirkt.
Mutatis mutandis läßt sich ein ähnlicher Prozeß auf dem Gebiet der kunstgestaltenden Gebärdensprache feststellen, wenn etwa die tanzende Salome der Bibel wie eine griechische Mänade auftritt, oder wenn eine fruchtkorbtragende Dienerin Ghirlandajos im Stil einer ganz bewußt nachgeahmten Victorie eines römischen Triumphbogens herbeieilt.
In der Region der orgiastischen Massenergiffenheit ist das Prägewerk zu suchen, das dem Gedächtnis die Ausdrucksformen des maximalen inneren Ergriffenseins, soweit es sich gebärdensprachlich ausdrücken läßt, in solcher Intensität einhämmert, daß diese Engramme leidenschaftlicher Erfahrung als gedächtnisbewahrtes Erbgut überleben und vorbildlich den Umriß bestimmen, den die Künstlerhand schafft, sobald Höchstwerte der Gebärdensprache durch Künstlerhand im Tageslicht der Gestaltung hervortreten wollen.
Hedonistische Ästheten gewinnen die wohlfeile Zustimmung des kunstgenießenden Publikums, wenn sie solchen Formenwechsel aus der Pläsierlichkeit der dekorativen größeren Linie erklären. Mag wer will sich mit einer Flora der wohlriechenden und schönsten Pflanzen begnügen, eine Pflanzenphysiologie des Kreislaufs und des Säftesteigens kann sich aus ihr nicht entwickeln, denn diese erschließt sich nur dem, der das Leben im unterirdischen Wurzelwerk untersucht. Der Triumph der Existenz trat, von der Antike plastisch präfiguriert, in der ganzen erschütternden Gegensätzlichkeit von Lebensbejahung und Ich-Verneinung vor die Seele der Nachfahren, die sie auf den Heidensarkophagen Dionysos im Taumelzuge seines orgiastischen Gefolges erblickten und auf den römischen Siegesbögen den Triumphzug des Imperators. In beiden Symbolen Massenbewegung in der Gefolgschaft eines Herrschers; aber während die Mänade das im Wahnsinn zerrissene Böcklein zu Ehren des Rauschgottes schwingt, liefern römische Legionäre die abgeschnittenen Köpfe der Barbaren dem Caesar wie einen fälligen Tribut im geordneten Staatswesen ein (wie denn auch der Kaiser auf den Reliefs als Vertreter kaiserlicher Fürsorge für seine Veteranen gefeiert wird).
Freilich das Colosseum, wenige Schritte vom Konstantinsbogen, erinnert den Römer des Mittelalters und der Renaissance unerbittlich daran, daß der menschenopfernde Urtrieb im heidnischen Rom seine Kultstätte erzwungen hatte, und bis auf den heutigen Tag bleibt Roma die unheimliche Doppelheit des Siegerkranzes des Imperators und der Märtyrer.
Mittelalterliche Kirchenzucht, die in der Kaiservergottung ihren gnadenlosen Feind erlebt hatte, würde ein Monument wie den Konstantinsbogen zerstört haben, wenn sich nicht, durch später hineingesetzte Reliefstreifen begründet, die Heroismen des Kaisers Trajan unter dem Mantel des Konstantin hätten erhalten dürfen.
Die Kirche selbst hatte durch eine Sage, die noch bei Dante lebt, die gloriose Selbstherrlichkeit der Trajan-Reliefs in christliche Gesinnung umgewandelt. In der berühmten Erzählung von der Pietà des Kaisers gegen die Witwe, die um Recht flehte, ist wohl der feinsinnigste Versuch gemacht, durch energetisch invertierte Sinngebung das imperatorische Pathos in christliche Pietät zu verwandeln; der dahersprengende Kaiser auf dem Relief im Innern, der einen Barbaren überreitet, wird zum Rechtsprecher, der seinem Gefolge Halt gebietet, weil das Kind der Witwe unter die Hufe der römischen Reiter gekommen war.
Die Restitution der Antike als ein Ergebnis des neueintretenden historisierenden Tatsachenbewußtseins und der gewissensfreien künstlerischen Einfühlung zu charakterisieren, bleibt unzulängliche deskriptive Evolutionslehre, wenn nicht gleichzeitig der Versuch gewagt wird, in die Tiefe triebhafter Verflochtenheit des menschlichen Geistes mit der achronologisch geschichteten Materie hinabzusteigen. Dort erst gewahrt man das Prägewerk, das die Ausdruckswerte heidnischer Ergriffenheit münzt, die dem orgiastischen Urerlebnis entstammen: dem tragischen Thiasos.
Um das Wesen der Antike im Symbol einer Doppel-Herme des Apollo-Dionysos zu erblicken, bedarf es seit Nietzsches Tagen keiner revolutionierenden Attitude mehr. Im Gegenteil verhindert eher der oberflächliche Tagesgebrauch dieser Gegensätzlichkeitslehre bei der Betrachtung paganer Kunstgebilde insoweit ernst zu machen, daß man Sophrosyne und Ekstase vielmehr in der organischen Einheitlichkeit ihrer polaren Funktion bei der Prägung von Grenzwerten menschlichen Ausdruckswillens begreift.
Die ungehemmte Entfesselung körperlicher Ausdrucksbewegung, wie sie besonders in Klein-Asien im Gefolge der Rauschgötter sich vollzog, umfängt die ganze Skala kinetischer Lebensäußerung phobisch-erschütterten Menschentums von hilfloser Versunkenheit bis zum mörderischen Taumel und alle mimischen Aktionen, die dazwischen liegen, wie sie im thiasotischen Kult gehen, laufen, tanzen, greifen, bringen, tragen, lassen in der kunstwerklichen Darstellung den Nachhall solch abgründiger Hingabe verspüren. Der thiasotische Prägerand ist geradezu ein wesentliches und unheimliches Kennzeichen dieser Ausdruckswerte, wie sie etwa auf antiken Sarkophagen zum Auge der Renaissance-Künstler sprachen.
In einer eigentümlichen Zwiespältigkeit versuchte nun die italienische Renaissance sich diese Erbmasse phobischer Engramme einzuverseelen. Sie war einerseits eine willkommene Anstachlerin für die neuen Freigelassenen des weltzugewandten Temperaments, die dem um seine persönliche Freiheit dem Schicksal gegenüber Kämpfenden den Mut zur Mitteilung des Unaussprechlichen verlieh.
Dadurch aber, daß diese Aufstachelung als mnemische Funktion vor sich ging, d. h. durch vorgeprägte Formen bereits einmal durch künstlerische Gestaltung geläutert war, blieb die Restitution ein Akt, der zwischen triebhafter Selbstentäußerung und bewußter bändigender formaler Gestaltung, d. h. eben zwischen Dionysos-Apollo, dem künstlerischen Genius den seelischen Ort anwies, wo er seiner persönlichsten Formensprache dennoch zur Eigenausprägung verhelfen konnte. Der Zwang zur Auseinandersetzung mit der Formenwelt vorgeprägterAusdruckswerte – sie mögen nun aus Vergangenheit oder Gegenwart stammen –, bedeutet [er indogermanischen Sprache] für jeden Künstler, der seine Eigenart durchsetzen will, die entscheidende Krisis. Die Einsicht, daß dieser Prozeß für die Stilbildung der italienischen Renaissance eine ungewöhnlich weittragende und bisher übersehene Bedeutung hat, führte zu dem vorliegenden Versuch der "Mnemosyne“, die in ihrer bildmateriellen Grundlage zunächst nichts anderes sein will, als ein Inventar der nachweisbaren Vorprägungen, die vom einzelnen Künstler Abkehr oder Einverseelung dieser zwiefach herandrängenden Eindrucksmasse forderten.
Die entscheidende Phase in der Entwicklung des malerischen Monumentalstils der italienischen Renaissance spiegelt sich mit einer symbolischen Deutlichkeit, wie sie uns nur die wirkliche Geschichte vergönnt, in jenen Kunstwerken wider, die sich aus heidnischer und christlicher Zeit an die Gestalt Kaiser Konstantins knüpfen.
Von den trajanischen Reliefs an dem Triumphbogen, der Konstantins Namen trägt, obgleich nur wenige Reliefstreifen seiner Zeit angehören (vgl. Wilpert), geht jenes imperatorische Pathos aus, das noch der Gebärdensprache später Nachfahren durch ihre rauschende und bestechende Eloquenz Weltgeltung verlieh, vor der freilich die feinsten pfadweisenden Werke des italienischen Auges ihr Recht auf folgehafte Führerschaft einbüßten. Die Konstantin-Schlacht des Piero della Francesca in Arezzo, die für innerliche menschliche Ergriffenheit eine neue unrhetorische Größe der Ausdrucksform entdeckt hatte, wurde gleichsam unter den Hufen des wilden Heeres zerstampft, das auf den Wänden der Stanzen unter dem Vorwande des Konstantin-Sieges einhergaloppieren darf.
Wie war in der Nachbarschaft Raffaels und Michelangelos ein solcher Leerlauf der künstlerischen Formensprache möglich? Daß die Freude an der großartigen Geste der antiken Skulptur im Zusammentreffen mit einem gleichgestimmten wiedererwachenden Sinn für das archäologische Echte zu einer so aufdringlichen Vorherrschaft der dynamischen Pathosformel all'antica führte, gibt für die Vehemenz des Vorganges eine lediglich ästhetische Erklärung.
Die neue pathetische Gebärdensprache der heidnischen Gestaltenwelt war ja nicht etwa einfach unter dem Beifall eines feinsinnigen Künstlerauges und eines gleichgestimmten erlesenen antiquarischen Geschmacks ins Atelier eingezogen.
Die Charakterisierung der Heidenwelt als formenklarer Olympier war vielmehr einer Periode mächtigen Widerstandes abgerungen worden, die trotz ihrer barbarischen Antiklassizität im äußeren Auftreten sich mit Recht als treue und autoritative Hüterin des antiken Erbes ansehen durfte. Diese zwei Masken sehr heterogener Herkunft, die jene humane Umrißklarheit der griechischen Götterwelt verdeckten, waren die nachlebenden monströsen Symbole der hellenistischen Astrologie und die im zeitgenössischen bizarren Realismus des Mienenspiels und der Tracht auftretende Gestaltenwelt der Antike alla francese.
Unter den Praktiken der hellenistischen Astrologie hatte sich die lichte Natürlichkeit des griechischen Pantheons zu einer Rotte monströser Gestalten zusammengeballt, die aus ihrer Undurchsichtigkeit als fratzenhafte Schicksalshieroglyphen zu humaner Glaubwürdigkeit zu erwecken die nachdrückliche Forderung einer Zeit sein mußte, die zum wiederentdeckten Wort der Antike nunmehr auch in der äußeren Erscheinung stilgemäße organische Übersehbarkeit forderte.
Die zweite Demaskierung, die man vom heidnischen Altertum zu fordern hatte, mußte sich gegen eine nur anscheinend harmlosere Vermummung richten, gegen den Trachtenrealismus alla francese, in dem sich auf flandrischen Bildteppichen oder Buchillustrationen ovidianische Dämonie oder livianische Römergröße vortrug.
Die Kulturhistorie ist freilich nicht gewohnt, die orientalisch-praktische, die nordisch-höfische und die italienisch-humanistische Auffassung der Antike als gleichstrebige Komponenten imProzeß der neuen Stilbildung zusammenzusehen. Man macht sich eben nicht klar, daß die Astrologen, die ihren Abumashar ganz richtig als getreuen Überlieferer ptolemäischer Kosmologie erkannten, mit subjektivem Recht behaupten konnten, daß sie peinlich getreue Überlieferungsbewahrer seien, wie ebenso die gelehrten Berater der Bildweber und Miniaturisten im Kulturkreis der Valois glauben durften – sie mochten gute oder schlechte Übersetzungen der antiken Schriftsteller vor sich haben –, daß sie die Antike in peinlicher Treue wieder auferstehen ließen.
Die Wucht des Eintritts der antikisierenden Gebärdensprache erklärt sich also indirekt aus dieser zweifach angeforderten reaktiven Energie, die die Wiederherstellung der umrißklaren Ausdruckswerte der Antike aus den Fesseln einer nicht homogenen Überlieferung beanspruchte.
Faßt man demgemäß Stilbildung als ein Problem des Austausches solcher Ausdruckswerte auf, so stellt sich die unerläßliche Forderung ein, die Dynamik dieses Prozesses in Bezug auf die Technik seiner Verkehrsmittel zu untersuchen. Die Zeit zwischen Piero della Francesca und der Raffael-Schule ist eine Epoche der beginnenden intensiven internationalen Bilderwanderung zwischen Norden und Süden, deren elementare Gewalt, sowohl was die Wucht des Einschlags wie den Umfang ihres Wandergebietes angeht, dem europäischen Stil-Historiker verdeckt wird durch den offiziellen "Sieg“ der römischen Hochrenaissance. Der flandrische Teppich ist der erste noch kolossalische Typus des automobilen Bilderfahrzeugs, der, von der Wand losgelöst, nicht nur in seiner Beweglichkeit, sondern auch in seiner auf vervielfältigende Reproduktion des Bildinhaltes angelegten Technik ein Vorläufer ist des bildbedruckten Papierblättchens, d. h. des Kupferstiches und des Holzschnittes, die den Austausch der Ausdruckswerte zwischen Norden und Süden erst zu einem vitalen Vorgang im Kreislaufprozeß der europäischen Stilbildung machten.
Mit welchem Nachdruck und in welchem Umfange diese vom Norden importierten Bildträger in den italienischen Palazzo eindrangen, dafür nur ein Beispiel: um 1475 schmückten etwa 250 laufende Meter flandrischer Bildteppiche mit Darstellungen des bewegten Lebens aus Vorzeit und Gegenwart die Wände im stattlichen Bürgerhause der Medici, dem sie den ersehnten Glanz höfisch-fürstlicher Pracht verliehen. Aber neben ihnen durfte sich bereits eine unscheinbarere Kunstgattung zeigen, die ihre innere Überlegenheit als stilbildende Macht noch unter ihrem bescheidenen Auftreten als wohlfeile Leinwandbilder verbergen konnte; sie ersetzten durch die novità der Ausdrucksweise, was ihnen an Materialwert abging. Das von keiner burgundischen Ritterrüstung beschwerte Gebärdenspiel Pollaiuolo's trug die Heraklestaten in ihrem hinreißenden Enthusiasmus all'antica auf solchen Leinwandbildern vor.
Eine ins Urreich der heidnischen Religiosität wurzelnde Wiederherstellungssehnsucht kommt hinzu. Waren denn nicht die hellenistischen Sternbilder Symbole eines end-zeitlichen raptus in caelum, wie dementsprechend auch die ovidianischen Märchen, die den Menschen in die Hyle zurückwandeln, den raptus ad inferos versinnbildlichen? Die nur anscheinend rein äußerliche künstlerische Tendenz der Wiederherstellung der gebärdensprachlichen Umrißklarheit führte von selbst, d. h. der inneren Logik der gesprengten Fesseln entsprechend, zu einer Formensprache, die dem verschütteten tragischen, stoischen antiken Fatalismus angemessen war.
Durch das Wunderwerk des normalen Menschenauges bleiben in Italien im starren Steinwerk der antiken Vorzeit, Jahrhunderte überdauernd, den Nachfahren gleiche seelische Schwingungen lebendig.
Die Bildersprache der Gebärde, häufig durch Inschriften um die Sprache des Wortes, die sich auch ans Ohr wendet, verstärkt, zwingen durch solche gedächtnismäßige Funktion auf Architekturwerken (z. B. Triumphbogen, Theater) und Plastik (vom Sarkophag bis zur Münze) durch die unzerstörbare Wucht ihrer Ausdrucksprägung zum Nacherleben menschlicher Ergriffenheit in dem ganzen Umfange ihrer tragischen Polarität vom passiven Erdulden bis zur aktiven Sieghaftigkeit.
In der Triumphplastik feierte sich das Jasagen zum Leben in pomphafter Form, während die Sagen auf den Relies der Heldensärge den verzweifelten Kampf um den Aufstieg der Menschenseele zum Himmel in mythischen Symbolen vortrugen.
Wie nachdrücklich solche kirchenfeindlichen Elemente sich einprägen durften, beweist jene Reihe von über zwölf Sarkophagen, die eingemauert in der Treppenwange von S. Maria Aracoeli, wie Traumbilder aus der verbotenen Religion heilloser paganer Dämonie, den frommen Pilger bei seinem Aufstieg zur Kirche begleiten durften.
Diese Gegensätzlichkeit des Ich-Bewußtseins im äußeren Ausdruck verlangte von der stoffgebundenen Anschauungsweise des ausgehenden Mittelalters eine parallele ethische Auseinandersetzung zwischen pagan-kämpfender und christlich-ergebener Persönlichkeits-Empfindung.
Es gehört zu den eigentlich künstlerisch-schöpferischen Vorgängen im Zeitalter der sogenannten Renaissance, daß die Überlegenheit der dramatischen Umrißklarheit der antik sieghaften Einzelgebärden aus der Trajans-Epoche über die unklare Massen-Epik konstantinischer Epigonen nicht nur herausgefühlt, sondern geradezu als kanonische Pathosformeln in die Formensprache der europäischen Renaissance vom 15. bis 17. Jahrhundert unmittelbar vorbildlich in Umlauf gesetzt werden, sobald die Darstellung menschlich-bewegten Lebens als Aufgabe vorlag.
Per citare questo articolo/ To cite this article: A. Warburg, Bilderatlas Mnemosyne. Einleitung, ”La Rivista di Engramma” n. 28, novembre 2003, pp. 311-319 | PDF