Mary Warburg, geb. Hertz
Ein kurzes Porträt der vergessenen Künstlerin
Bärbel Hedinger und Michael Diers
English abstract
Pubblichiamo un estratto del volume Mary Warburg. Porträt einer Künstlerin. Leben|Werk a cura di Bärbel Hedinger e Michael Diers, edito da Hirmer Verlag a Monaco nel 2020. Il volume contiene saggi di Jutta Braden, Steffen Haug, John Prag, Andrea Völker e Martin Warnke, oltre a un catalogo ragionato, con circa 900 illustrazioni. Si tratta della prima monografia dedicata all’artista Mary Hertz (1866-1934), nonché moglie di Aby Warburg; un’opera collettiva comprensiva di catalogo che anticipa alcune mostre previste nel 2021 a Colonia e Amburgo e successivamente anche a Londra.
„Ich möchte mal ein solches Bild malen, das jeden,
der es ansieht, auf Augenblicke frei und glücklich macht“.
Mary Hertz an Aby Warburg, Hamburg, 2. April 1894
1. Eine Wiederentdeckung - Unter ihrem Mädchennamen Mary Hertz (1866–1934) ist die hier vorzustellende Künstlerin weitgehend unbekannt, unter ihrem Ehenamen Mary Warburg ist sie zumindest durch ein einzelnes Werk, das zugleich eine ihrer letzten größeren Arbeiten darstellt, in Erinnerung geblieben. Dabei handelt es sich, kaum zufällig, um die Bronzebüste ihres Mannes, des heute wieder allseits gerühmten Kunst- und Kulturhistorikers Aby Warburg, der 1929 verstorben ist. Bald nach dessen Tod geschaffen, hat dieses Bildnis der Künstlerin zumindest ein bescheidenes Nachleben beschert. Aber selbst in der Aby Warburg-Literatur vergisst man gelegentlich, ihren Namen als Urheberin dieses prominenten Porträts zu erwähnen. Das ist vielleicht nicht verwunderlich in einer für lange Jahrzehnte von Männern dominierten und vorwiegend am Maßstab sogenannter Hochkunst orientierten wissenschaftlichen Welt, aber völlig unangemessen und ungerechtfertigt im Blick auf das ungemein vielseitige Schaffen einer Künstlerin, die sich bereits mit fünfzehn Jahren für die Kunst entschieden hatte und diesen Weg als Tochter aus angesehenem hanseatischen Haus recht konsequent und auch mit einigem Erfolg gegangen ist. Konkret hieß dies in den 1880er Jahren, als es in Hamburg noch keine Kunstakademie gab (und diese gegebenenfalls für sie als junge Frau nicht zugänglich gewesen wäre), privaten Mal- und Zeichenunterricht bei ortsansässigen Künstlern zu nehmen. Das waren damals regional prominente Fachvertreter, aber keine Berühmtheiten. Als weitere wichtige (Selbst-)Ausbildungsstationen kamen zahlreiche Reisen ins europäische Ausland hinzu, die sie an der Seite ihres Vaters unternommen hat. Auf diesen Touren füllte sie ein Skizzenbuch nach dem anderen. Neben Bleistiftzeichnungen, Pastellen und Aquarellen – bevorzugt zu den Themen Landschaft und Porträt – kam später auch die Plastik ins Spiel, indem Kleinskulpturen aus Bronze und Porzellan entstanden. Mit dreißig Jahren war Mary Hertz bereits eine recht angesehene, vom Symbolismus und Jugendstil inspirierte junge Künstlerin, die ein eigenes Atelier besaß, Illustrations-Aufträge für Plakate und Bücher erhielt und deren Œuvre in bescheidenem Umfang auch ausgestellt wurde und in die öffentlichen Sammlungen der Hansestadt Einzug gehalten hatte. Insbesondere aber bedachte und überraschte sie ihren großen Familien- und Freundeskreis immer wieder mit neuen Werken.
Wer sich heute auf die Suche nach ihrem Schaffen begibt, stößt bald auf ihren künstlerischen Nachlass, der zu weiten Teilen seit 1976 im Kupferstichkabinett der Hamburger Kunsthalle verwahrt wird, sowie auf das Konvolut ihrer Briefe und Aufzeichnungen, das im Londoner Warburg Institute unter den Papieren ihres Mannes archiviert ist. Forscht man darüber hinaus nach weiteren Werken, Dokumenten und Daten im Kreis ihrer Familie im In- und Ausland, so erhält man ein facettenreiches Bild ihrer mannigfaltigen Kunst. Dass dieses Œuvre fast vollständig vergessen – oder sollte man besser sagen: vernachlässigt – ist, hat diverse Ursachen.
Mary Hertz alias Warburg hat zeitlebens nie Aufhebens von ihrer eigenen Arbeit gemacht. Nachdem sie bereits als junge Frau in Florenz den gleichaltrigen Studenten der Kunstgeschichte Aby Warburg, ebenfalls aus Hamburg sowie aus bestem Haus, kennengelernt hatte, erlebte das Paar, eine nachdrückliche Zeit wechselseitiger Inspiration und intensiven (Brief-)Austauschs in Sachen Bildung, Kunst und Geschichte. Mary hat ihren Freund mit der Kunst der Gegenwart bekannt gemacht, Aby hingegen hat seiner Vertrauten die Kunst der Renaissance erläutert – die Künstlerin und der Kunsthistoriker in bestem intellektuellen Verbund und Einvernehmen. Diese Symbiose war fast unverbrüchlich, hat aber sehr verschiedene Aggregatzustände von Nähe und Distanz durchlaufen. Mit der Eheschließung 1897 und den drei in rascher Folge zur Welt gebrachten Kindern war Mary als Hausfrau und Mutter jahrelang fast vollständig von den mit diesen Aufgaben verbundenen Pflichten in Anspruch genommen. Ihren Geburtsnamen hatte sie gegen den ihres Mannes eingetauscht und damit einen Teil ihrer künstlerischen Identität zwar nicht aufgegeben, aber doch verlagert, um nicht zu sagen verborgen. Auf ihr Atelier allerdings hat sie kaum je verzichtet, vielmehr ihre künstlerische Arbeit den neuen Lebensbedingungen immer wieder, auch unter Einschränkungen, angepasst. So nicht zuletzt dadurch, dass sie sich, jetzt stärker ans Haus gebunden, bevorzugt ihren Kindern als Modellen für Zeichnungen und Plastiken zugewandt hat. Vor allem hat sie sich der Karriere ihres Mannes nachdrücklich verpflichtet und ihm als engagierte wissenschaftliche Hilfs-, Schreib- und Zeichenkraft, aber insbesondere als inspirierende Gesprächspartnerin und aufmunternde Psychologin zur Seite gestanden. Mit dem wachsenden beruflichen Renommee Warburgs und dem Auf- und Ausbau seiner großen Forschungsbibliothek rückte ihre künstlerische Arbeit in der eigenen wie allgemeinen Wahrnehmung immer stärker in den Hintergrund, wurde aber dennoch kontinuierlich fortgesetzt. Als sie am 3. Dezember 1934 im Alter von knapp 68 Jahren starb, hatte sie kurz zuvor noch mitansehen müssen, wie das Lebenswerk ihres Mannes, sprich die ausgedehnte Kulturwissenschaftliche Bibliothek, an deren Aufbau sie als fürsorgliche und verständnisvolle Ehefrau einigen Anteil hatte, samt den wichtigsten Mitarbeitern und Vertrauten in die Emigration gezwungen worden war.
Über diesen einschneidenden historischen Ereignissen der NS-Zeit, des Zweiten Weltkrieges und den geschichtsverdrängenden Jahrzehnten des deutschen Wiederaufbaus geriet ihr Schaffen schließlich vollständig in Vergessenheit. Auch die diversen Aby Warburg-Renaissancen seit 1970 haben es kaum wieder sichtbar werden lassen. In der Warburg-Literatur wird Mary Hertz oder Mary Warburg, falls sie überhaupt Erwähnung findet, in der Regel als Liebhaberin der Künste oder Dilettantin abgetan. In den Personenlexika zur bildenden Kunst, die Notiz von ihr genommen haben, gehen die Einträge über wenige Zeilen nicht hinaus. Neben der Hamburger Kunsthalle, die ihr 1985, fünf Jahrzehnte nach ihrem Tod, eher pflichtschuldig eine Kabinett-Ausstellung gewidmet, ihre Plastiken später in das Verzeichnis der Skulpturen aufgenommen und ihr schließlich zwanzig Jahre später einen Platz als Hamburger „Künstlerin der Avantgarde“ an der Seite von Alma del Banco, Anita Rée oder Gretchen Wohlwill in einer Gruppenausstellung eingeräumt hat, hat vor allem die Familie ihr verstreutes Werk in Ehren gehalten.
Heute, wiederum mehr als ein Jahrzehnt später, ist eine Künstlerin zu entdecken, deren Œuvre rund neunhundert Werke umfasst, darunter einhundertfünfzig Pastelle, Aquarelle und Zeichnungen, fünfzehn Skizzenbücher mit mehreren hundert Darstellungen sowie sechzig Plastiken und darüber hinaus Buchschmuck und Gebrauchsgraphik. Dies in Kürze und eher statistisch die erstaunliche Quantität. Wichtiger jedoch ist die beeindruckende Qualität, von welcher das ausführlich kommentierte, durchgehend illustrierte Werkverzeichnis der unten angeführten Monographie beredtes Zeugnis ablegen.
Die Idee, der wenig bekannten Hamburger Künstlerin ein Denkmal in Buch- und Ausstellungsform zu errichten, ist aus dem Kontext der Befassung mit dem wissenschaftlichen Werk Aby Warburgs erwachsen. Speziell die Durchsicht seiner umfangreichen Korrespondenz hat auf die Vielzahl der Briefe von und an Mary Hertz, spätere Mary Warburg, und auf den intensiven Gedankenaustausch aufmerksam gemacht, der zwischen den zunächst befreundeten, später heimlich verlobten und schließlich durch Heirat verbundenen Partnern stattgefunden hat (das Warburg Institute Archive verwahrt allein 2657 Briefe von Mary Hertz/Mary Warburg an Aby Warburg).
Insbesondere in den rund zehn Jahren ihrer nicht selten angespannten, immer wieder von Missverständnissen und Zerwürfnissen geprägten Freundschaft, das heißt in der Zeit von 1888 bis 1897, handeln die Schreiben ausführlich nicht nur allgemein von Fragen der Kunst, ihrer Geschichte und Bedeutung, sondern auch konkret vom künstlerischen Schaffen von Mary Hertz, und von einzelnen, im Entstehen begriffenen Werken. Diese Spur verfolgend führte der Weg der Recherche, einem Hinweis Martin Warnkes folgend, schnurstracks in die Hamburger Kunsthalle, wo der Hauptteil des künstlerischen Nachlasses deponiert ist, und somit hin zu den Werken selbst. Nach einer ersten groben Durchsicht des umfangreichen Œuvres war rasch klar, dass hier mehr als nur das Werk einer Künstlerin der Sparte „unter ferner liefen“ zu finden war. Ohne Frage war der Umstand, dass der größte Teil des Œuvres, der bei der Familie in Hamburg blieb und nicht durch die Emigration der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg (K.B.W.) nach London gelangt war, 1976 als „unwiderrufliche Dauerleihgabe“ an die Hamburger Kunsthalle gelangt ist, wiederum der Tatsache zu danken, dass der Name Aby Warburg unterdessen wieder stärker zum Klingen, sprich in Erinnerung gebracht worden war. Mary Warburg allerdings geriet dabei dennoch kaum näher in den Blick. Die Zeit für eine solche Würdigung war offenbar noch nicht reif, was ganz unmetaphorisch heißt, dass es schlicht am gebotenen Interesse des Faches Kunstgeschichte wie der allgemeinen Öffentlichkeit für das Werk einer Künstlerin mangelte, die weder auf der ersten noch auf der zweiten Rangstufe des damals gültigen Kanons rangierte. Erst die jüngere, überwiegend von der weiblichen, feministischen Wissenschaft getragene Forschung und Museumsarbeit hat für eine Wende, das heißt allgemein für eine Wandlung des Verständnisses und einer breiteren Wertschätzung von Künstlerinnen im Allgemeinen und Besonderen gesorgt.
Es können an dieser Stelle die Biographie und das Werk der Künstlerin nicht ausführlich dargestellt und kommentiert werden (auf ausführliche Anmerkungen wurde an dieser Stelle ebenfalls verzichtet). Daher sei hier nur auf eine entscheidende Wende im Leben von Mary Hertz Bezug genommen, die für ihre weitere Laufbahn als Frau und Künstlerin gleichermaßen bestimmend werden sollte. Es handelt es sich dabei um die oben bereits erwähnte Begegnung mit Aby Warburg in Florenz.
2. Die Künstlerin und der Gelehrte - Im Dezember 1888 ging Mary Hertz, damals 22 Jahre alt, wieder einmal mit ihrem Vater auf Reisen, dieses Mal nach Italien und speziell nach Florenz. Ihr Bruder John hatte ihr den Hinweis gegeben, sich dort an einen jungen Kunsthistoriker zu wenden, der sich damals zu Studienzwecken in der Arnostadt aufhielt. Es handelte sich um Aby Warburg (1866–1929), gleichen Alters wie Mary und wie diese aus Hamburg stammend. John Hertz war ein enger Freund Abys aus den gemeinsamen Studienjahren in Bonn. Auf diese Empfehlung hin wandten sich die Hertzens an Warburg, der in den folgenden zehn Tagen mit ihnen die Stadt durchstreifte und dabei kaum eine der kunsthistorischen Sehenswürdigkeiten ausließ. Dem Vater wurde es bisweilen zu anstrengend, so dass er sich ins vornehme Hotel Grand Bretagne, direkt am Arno, nahe dem Ponte Vecchio und den Uffizien gelegen, zurückzog und die jungen Leute, die Künstlerin und den Kunsthistoriker, sich selbst überließ. Wie wir aus Warburgs Notizbuch und einigen Briefen beider Seiten wissen, war das touristische Programm tatsächlich umfangreich. Das erste Treffen fand, eher zufällig, am Montag, den 3. Dezember auf der Straße statt, so dass man sich gleich auf den Abend verabredete, um die Tour zu besprechen. Am nächsten Morgen startete man umgehend mit einer Besichtigung der Uffizien und des Palazzo Pitti, vermutlich zunächst insbesondere mit Blick auf die Architektur. Am Mittwoch war man wieder vor Ort und diesmal dürfte es vornehmlich um die Sammlungen gegangen sein. Lapidar heißt es bei Warburg: „Frln. H. sehr verständig.“ (Aby Warburg (AW), Notizkalender, Mittwoch, 05.12.1888 (WIA III.10.1). Am Tag darauf folgten die Besuche der Kirchen Santa Croce und Santa Maria Novella, am Freitag dann das Kloster San Marco mit den Fresken Fra Angelicos und die benachbarte Kirche SS. Annunziata sowie die „Akademie“, wie es knapp bei Warburg heißt. Gemeint ist die Accademia di Belle Arti, die bis heute aus der Kunstschule und der ihr angeschlossenen Sammlung besteht und bereits im 16. Jahrhundert unter dem Protektorat von Cosimo I. de Medici von Künstlern wie Giorgio Vasari, Bartolomeo Ammanati und Agnolo Bronzino gegründet worden war und übrigens schon früh eine Künstlerin, und zwar Artemisia Gentileschi, in ihre Reihen aufgenommen hatte.
Am Sonnabend hatte Aby offenbar frei und am Sonntag, den 9. Dezember haben Warburg und die Hertzens im Hotel gemeinsam gespeist und „nachher am Kamin geplaudert“ und „Frln Hertz [hat] mir ihre vorzügl. Skizzen gezeigt. Ecco“ (AW, Notizkalender, Sonntag, 09.12.1888 [WIA III.10.1]). Der Ausruf „Ecco“ („Sieh mal einer an, siehe da“) meint Bewunderung, sei es über die Tatsache, dass Warburg Einblick ins Skizzenbuch erhielt, oder aber, dass es die Qualität der Blätter betraf. Am Dienstag folgte dann der Besuch der Brancacci-Kapelle sowie der Galleria Corsini im gleichnamigen Barockpalast, der damals eine der prominentesten Privatsammlungen der Stadt beherbergte. Tags darauf besuchte Warburg gemeinsam mit Mary Hertz das Geschäft der Fratelli Alinari, um sich Reproduktionen berühmter Gemälde, an welchen die junge Künstlerin interessiert war, anzusehen und Abzüge zu bestellen, darunter eine Madonna Filippo Lippis, Sandro Botticellis Magnificat-Madonna, die Madonna della Sedia von Raffael, ferner Werke von Giotto und Masolino. Anschließend ging man nochmals in die Uffizien, wo die beiden jungen Leute im Kupferstichkabinett über die Schönheit von Dürers graphischen Werken nachsannen. Den Abschluss dieses Exkursionstages bildete eine Visite der Casa Buonarotti mit ausgewählten Werken Michelangelos. Später saß man beisammen, besah die erworbenen Fotografien und schrieb dem Initiator des Zusammentreffens, dem Freund und Bruder John zum Gruß und Dank eine Briefkarte. Weiter ging’s am Donnerstag mit der Besichtigung des Hospitals Santa Maria Nuova mit seinem Kreuzgang und Garten und vor allem dem Portinari-Triptychon von Hugo van der Goes sowie des Archäologischen Museums mit den damals dort verwahrten Medici-Tapisserien, die später in die Sammlung Uffizien übergingen und heute teils wieder im Palazzo Vecchio, für den sie geschaffen wurden, gezeigt werden. Am Freitag folgte dann ein Besuch der Badia Fiorentina und des Chiostro dello Scalzo mit den Grisaille-Fresken Andrea del Sartos sowie die Andrea Castagno-Wandbilder im Cenacolo di Sant‘ Apollonia, zu denen Warburg in aller Kürze ein „sehr interessant“ notiert.
Am Sonnabend, den 15. Dezember kam es dann zum Abschied. Warburg hatte zwischendurch, und so auch an diesem Morgen, das von seinem Lehrer August Schmarsow geleitete Renaissance-Seminar besucht. Seine stenogramm- und staccatoartige Notiz zum Tage lautet:
„M[it] Schm[arsow]. im Pitti, dann in d. Uffizi. sehr anstrengend: Im Parl[amento]. gefrühstückt. Schwere Kopf[schmerzen?]. nach Hause: zu Setzer[?]: Photogr. überreicht: Sie [?] nach Dr Baquest[?] begleitet: in d. Cascina [Restaurant, Café]: Gesp[räch]. m. Mary H.: sie „meine erste Schülerin“. Da müßte ich mich doch eigentlich eben freun. Das ist es ja eben, daß wir uns so gut verstehn (wenn ich auch unsicher[?] wäre). Ich will noch an d. Bahn. In d. Etruria [evtl. Terra Etruria, Restaurant nahe dem Bargello] gegessen. An d. Bahn geg[angen]. Die ‚Fliegenden [Blätter]‘ gek. Mary H s[a]gt mir wie man mit mir über alles sprechen könnte: über John u. [Max L.] Strack (das ist auch so`n Mensch …) [Papa] Sen[ator] Hertz aufgeregt: Wagen nach Ala [Trentino] voll. Wagen n. Modena. Fasse Frln Hertz am Arm um sie ins Coupé zu führen: [folgt in griechischer Anfangsbuchstabenfolge:] “Eos, ich danke dir, dass du mich die reine Bluetenpracht ihrer Seele schauen ließest!” John Hertz! Mary ist fort. –Himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt.“ (AW, Tagebucheintrag vom 15.12.1888 [WIA III.10.1]).
Emphatisch schließt dieser Tagesreport mit dem weithin bekannten Temperament-Zitat aus Goethes „Egmont“. Zwischen beiden jungen Hamburgern scheint sich in der angegebenen Woche das ereignet zu haben, was man gemeinhin Liebe auf den ersten Blick nennt. Noch fünf Jahre später wird sich Warburg daran erinnern, dass seine neue Bekannte damals eine „rothe Bluse“ trug (AW, Brief an MH, 12.02.1894). Mithilfe dieses Agenda-Eintrages, so stichwortartig die Notizen auch gehalten sind, lässt sich ein Porträt der Beziehung zu der hübschen blonden Hamburgerin skizzieren. Mary und Aby, zwei Hanseaten, gleichen Standes und Alters (Mary Hertz war vier Monate jünger als AW), beide mit zweisilbigen anglophonen, auf ein Ypsilon endenden Vornamen, beide an einem 13. des jeweiligen Monats geboren und, das Wichtigste, beide vor allem in Sachen Kunst versiert – die eine der konkreten Praxis, der andere der Theorie und Geschichte nach. Die beiden haben sich auf Anhieb bestens verstanden, wie dem Tagebucheintrag unschwer zu entnehmen ist. Dass Mary aufmerksam den Ausführungen des Studenten, der gerade auf der Suche nach einem Dissertationsthema aus dem Gebiet der Renaissancekunst war, gefolgt ist und es angeregte Unterhaltungen über die Kunst, deren Gegenwart und Vergangenheit gegeben hat, steht außer Frage. Der Zufall wollte es, dass eine sehr begeisterungsfähige Künstlerin auf einen gleichermaßen begeisterten Kunsthistoriker gestoßen ist. Mary hat in Florenz damals einen Gesprächspartner gefunden, der ihr in vergleichbarer intellektueller Statur bislang noch nicht begegnet war. Mit ihrem Bruder John herrschte bestes Einvernehmen und intensiver Gedankenaustausch, aber inwieweit er in Sachen Kunst informiert oder an dieser Materie interessiert war, ist unklar. Er studierte seit dem Wintersemester 1887 Naturwissenschaften in Bonn und promovierte später in Würzburg im Fach Chemie. Mit Aby Warburg, der drei Jahre älter war, verband ihn als Schüler der Besuch des Johanneums, später waren sie, wie bereits erwähnt, für kurze Zeit auch Kommilitonen in Bonn und Warburg war dort sogar dessen „Leibfuchs“ in einer studentischen Verbindung. Sie standen zeitlebens in freundschaftlichem Kontakt und leisteten 1892 auch gemeinsam ihren einjährigen Militärdienst in Karlsruhe ab.
Warburg, der auch als Student immer noch in engem Briefaustausch mit seinen Eltern stand, die seit 1870 im Mittelweg 17 an der Ecke Johnsallee wohnten, informierte sie als guter Sohn ausführlich über seine Unternehmungen, teils ungewöhnlich detailliert und bisweilen sogar ungeniert. So berichtet er seiner Mutter Charlotte in mehreren Schreiben selbstverständlich auch von seiner Begegnung mit den Vertretern der Hertz-Familie. So heißt es in seinem Brief vom 8. Dezember: „Sehr angenehm war es mir, vor etwa 3 Tagen Hamburger hier zu treffen: Senator Hertz u. Tochter, denen ich die hiesige Sammlung [der Uffizien] zweimal zeigte, was mir auch deshalb Freude machte, weil Frln. Hertz sehr viel natürliches Verständnis besitzt“ (AW, Brief an Charlotte Warburg, 08.12.1888). Kurz darauf heißt es dann: „Mit Hertzens bin ich viel und sehr gern zusammen: Frln Hertz, die vortrefflich malt, hat so erstaunlich viel einfaches und dabei tiefgehendes Interesse für alles was Kunst heißt, daß ich das Fremdenführen wirklich mit Freude besorge: sonst, wie Du weißt, nicht meine Passion. Da kann man eben sehen, wie viel leichter die ungekünstelte, nicht bewußt krittelnde, gerade[aus] denkende Natur dem wirklich Werthvollen in der Kunst nahe gebracht werden kann. Herr Sen. Hertz wird sich übrigens die Ehre geben, Dir in Hbg. von Deinem Söhnchen zu berichten […]“ (AW, Brief an Charlotte Warburg, 12.12.1888). Und dann heißt es am Tag des Abschieds: „Hertzens gehen zu meinem sehr großen Bedauern heute Abend wohl fort: das Zusammensein mit ihnen war mir wirklich eine große Freude: Und so einfach, lustig und erstaunlich klug habe ich noch nie eine Zuhörerin gefunden wie Mary Hertz: vielleicht kommt sie auch auf die Idee, Dich in H[am]b[ur]g. zu besuchen, obgleich sie nichts davon gesagt hat“ (AW, Brief an Charlotte Warburg, 15.12.1888). Die Mutter wird sich nach Lektüre der zitierten Schreiben bereits ihren Teil über den spezifischen Charakter dieser Begegnung gedacht haben. Es war ungewöhnlich, dass ihr Sohn nicht von seinen kunsthistorischen Kommilitonen, sondern von einer jungen Frau, deren Kunst und Kunstverstand er in höchsten Tönen zu loben weiß, berichtete, ja schwärmte. Und er scheint darüber hinaus, was sonst nicht sonderlich häufig der Fall war, in diesen Tagen bester Laune gewesen zu sein. Dass es schließlich nicht ausgeschlossen war, dass sowohl der Vater als auch die Tochter Hertz seinen Eltern in Hamburg einen Höflichkeitsbesuch abstatten würden, sprach sicherlich ebenfalls Bände. Leider gibt es von Marys Seite keine vergleichbar aussagekräftigen Zeugnisse des Florentiner Intermezzos, aus dem in den nächsten Jahren eine intensive, von Zeit zu Zeit hart erprobte Freundschaft und rund eine Dekade später ein Bund fürs Leben erwachsen sollte (in ihrem Brief an AW vom 18.05.1889 träumt Mary davon, mit ihm gemeinsam Kunstgeschichte zu studieren). Zum Jahreswechsel hat sie ihrem neuen Bekannten in Florenz eine Grußkarte geschickt, der sie eine eigene Zeichnung angelegt hatte. Artig und ausführlich repliziert Warburg darauf am Tag nach Neujahr wie folgt:
„Sehr geehrtes Fräulein Hertz! Die erste Gratulationskarte, die ich im neuen Jahre aus Deutschland vorfand, war zu meiner großen Freude die Ihrige, die mir, als Erinnerungszeichen an unsere Florentiner Bilderbetrachtung ein so allerliebstes Kunstwerk von Ihrer Hand brachte: empfangen Sie für Ihre liebenswürdige Aufmerksamkeit meinen herzlichsten Dank.
Seit Sie und Ihr Herr Vater abgereist sind, hat sich der Kreis meiner Bekannten zum größten Teil verflüchtigt: Schmarsow ist in Berlin, ebenso Friedlaender, vier von uns staunen Rom an und seitdem sich gestern auch unser Coburger in die Umgegend geschlagen hat, um [sie] zu entdecken, ist mir als einem der letzten beiden Wappenhalter des kunsthistorischen Princips, mein Pendant genommen worden: diese Einsamkeit hat aber garnichts wüstenhaftes, im Gegenteil finde ich dieselbe da sie mir Muße zum Lesen bringt, sehr anregend.
Abends freilich möchte ich manchmal meinen Besuch bei Ihnen in dem gemüthlichen Zimmer im Hôtel Grand Bretagne mit dem wirklich wärmespendenden Kamin machen: jetzt wäre derselbe nicht einmal so nötig, da es seit zwei Tagen wieder gutes Wetter bleiben zu wollen scheint, obgleich wir doch noch nicht jene goldene Zeit erreicht haben, wo man unter Rosen Vasari liest. Die dunstige Schneeatmosphäre, durch die mir, auf Ihrem reizenden Aquarell, der Petrithurm entgegensieht, hat mein tiefstes Mitleid erregt: um den Neid der Götter zu versöhnen schickte ich einige florentiner Sonnenkinder nach Hamburg, die ich Sie freundlich aufzunehmen bitte. Mit bestem Gruß für Sie, Ihren Herrn Vater & John Ihr Aby Warburg“ (AW, Brief an MH, 02.01.1889).
Die erwähnte Hamburg-Ansicht seiner jungen Freundin hat sich offenbar nicht erhalten, und dies wiewohl sie Warburg sicherlich als erstes Geschenk und Andenken lieb und teuer gewesen sein dürfte. Mary scheint die Vedute eigens für ihn angefertigt zu haben, denn sie ist ja ausweislich von Warburgs kurzer Charakterisierung („Schneeatmosphäre“) im Dezember entstanden. Was es mit dem Motiv Sankt Petri sonst noch auf sich hatte, lässt sich nicht erschließen, vielleicht war es schlicht eine prägnante Hamburger Ansicht, die dem Florentiner als Souvenir die Heimat vor Augen stellte.
Fernerhin aber zeitigte die Florenz-Episode zahlreiche Folgen, darunter insbesondere auch den für die Nachwelt glücklichen Umstand, dass in den nächsten Jahren eine Vielzahl von Briefen zwischen den Partnern gewechselt wurde, so dass hier bedeutende Zeugnisse – rund zweihundertfünfzig Schreiben allein von Marys Hand bis zu ihrer Heirat im Herbst 1897 –zur äußeren und inneren Biographie der jungen Künstlerin (und nicht minder derjenigen Aby Warburgs) vorliegen. Mary Hertz wird durch Warburgs Ermunterung neuen Mut gefasst haben, sich stärker ihrer Kunst zu widmen, und dieser fachliche wie psychologische Zuspruch wird auch tatsächlich erhebliche Wirkung zeigen.
Aber auch für Aby Warburg haben sich rasch ausgeprägte Konsequenzen in Bezug auf seine kunsthistorische Forschung ergeben: Bereits am 27. Dezember berichtet er in einem Brief nach Hamburg: „Wissenschaftlich geht es mir ganz nach Wunsch: ja, ich habe sogar (aber nicht weitersagen) ein Thema gefunden, über das eine Doctorarbeit nicht unmöglich wäre" (AW an Charlotte Warburg, 24.12.1888; zit. n. Ernst Gombrich, Eine intellektuelle Biografie, deutsche Übersetzung, Frankfurt/M., 1981, S. 65). Die Rede ist von jenen Forschungen, die er zwei Jahre später unter dem Titel Sandro Botticellis ‚Geburt der Venus‘ und ‚Frühling‘. Eine Untersuchung über die Vorstellungen von der Antike in der italienischen Frührenaissance in Straßburg als Dissertation einreichen wird. Dass Mary Hertz ihm bei der Ideenfindung Pate gestanden und ihn beflügelt hat, das Thema des bewegten Gewandes entlang von weiblichen Idealgestalten in der Renaissancekunst, aufzugreifen, steht außer Zweifel. Mit Mary (und ihrem Vater) hatte er in den Uffizien vor diesen in vieler Hinsicht ikonographisch damals noch rätselhaften Großbildern der Epoche gestanden, sie in Ansätzen erläutert und dann im Nachgang, sprich in assoziativem wissenschaftlichen Sinnen, die Person der ihm sympathischen Hamburger Künstlerin, die ihm bereits am ersten Tag, nach der Mode der Zeit gekleidet, in bodenlangem, wehenden Gewand auf der Straße entgegengekommen war, miteinander in Beziehung gesetzt. Das klingt sicherlich ein wenig nach Romanze, trifft aber durchaus einen Teil des Kerns.
Mary Hertz hatte offenbar während ihrer Tage in Florenz kaum Zeit, einen Gedanken an ihre eigene Kunst zu verschwenden, es sei denn ihre vor Ort angelegten Skizzen, die sie abends am Kamin auch Warburg gezeigt hat, wären verloren. Aber selbst die bei Alinari erworbenen fotografischen Reproduktionen finden ein künstlerisches Nachleben. Ein Jahr nach ihrer ersten Begegnung schickt sie Aby Warburg eine von ihr gefertigte Kopie von Raffaels Madonna del Granduca aus der Pitti-Sammlung, um 1505 in Florenz entstanden, die sie ebenfalls gemeinsam betrachtet hatten. Auch dieses Bild von ihrer Hand hat sich nicht erhalten; in Warburgs Florentiner Stube wird es jedenfalls einen Ehrenplatz besessen haben. Als Zeichnung in Blei oder Aquarell wird es ihn an das Talent, als Gegenstand an den gemeinsamen Besuch und als Motiv zugleich an eine hübsche Frau gemahnt haben, mit der er die Darstellung im Zwiegespräch bewundert hatte. Und noch eine wesentliche Konsequenz, deren Folgen Mary viel später mittragen sollte, hat Warburgs viermonatige Residenz in der Arnostadt schließlich erbracht, indem der Kunsthistoriker gleich nach dem Jahreswechsel am 7. Januar 1889 wie folgt an seine Eltern schreibt: "Ich muß hier den Grundstock zu meiner Bibliothek und Photographien legen, und beides kostet viel Geld und repräsentiert bleibenden Wert" (AW, Brief an Charlotte Warburg, 07.01.1889; vgl. zu AWs ungebremsten Bücherkäufen auch Gombrich 1981, S. 73). Man könnte diesen Satz als erste explizite Erwähnung des großen Bibliotheksprojektes ansehen, das der Hamburger Privatgelehrte in den folgenden Jahren intellektuell, materiell und institutionell auf den Weg bringen wird. Aby Warburg und Mary Hertz erhalten jedenfalls für ihre jeweils anstehenden Arbeiten neuen Schwung, ersterer fast berauscht, so dass er seine Eltern „unbedenklich um eine Erhöhung meines Creditives“ bittet und fortfährt: „[S]o sicher werde ich jetzt meiner Sache, daß ich, hätte ich nicht Zinsen zu erhoffen, sondern nur ein kleineres Capital zur Verfügung, ich mich unbedingt selbst auffressen würde“ (AW, Brief an Charlotte Warburg, 27.01.1889, zit.n. Gombrich 1981, S. 67). Mary Hertz reüssiert fortan in der Hamburger Kunstszene, wird unter anderem vom Direktor der Hamburger Kunsthalle gefördert, stellt gelegentlich aus und beginnt auch selbst zu unterrichten. Dennoch bleibt ihr Wirkungskreis weitgehend auf die Hansestadt beschränkt und nach ihrer Heirat mit Aby Warburg wird die Kunst aufgrund ihrer Pflichten als Ehefrau und als Mutter dreier Kinder gezwungenermaßen mehr und mehr zur Nebensache. Aber die Kunst wird keineswegs aufgegeben. Bis in ihr letztes Lebensjahr war Mary Warburg künstlerisch aktiv. Leider sind vor allem einige ihrer Porträtbüsten der 1920er Jahre nur im Foto überliefert. Einen der Höhepunkte ihres Schaffens in der Spätphase bildet aber ohne Frage die Bronzebüste Aby Warburgs.
English abstract
In this issue of Engramma, we publish an excerpt from the volume Mary Warburg: Porträt einer Künstlerin. Leben|Werk edited by Bärbel Hedinger and Michael Diers, Hirmer Verlag (Munich 2020). The volume contains essays by Jutta Braden, Steffen Haug, John Prag, Andrea Völker and Martin Warnke, as well as a catalog raisonné, with around 900 illustrations. This is the first monograph dedicated to the artist Mary Hertz (1866-1934), Aby Warburg’s wife; a collective work including a catalogue that anticipates several exhibitions scheduled for 2021 in Cologne and Hamburg and later also in London.
keywords | Mary Hertz; Aby Warburg; biography.
Per citare questo articolo/ To cite this article: B. Hedinger, M. Diers, Mary Warburg, geb. Hertz. Ein kurzes Porträt der vergessenen Künstlerin, “La Rivista di Engramma” n. 177, novembre 2020, pp. 209-224 | PDF of the article